Der langsame Walzer der Schildkroeten
Hervé Lefloc-Pignel bezahlte. Joséphine dankte ihm. Sie fühlte sich besser, seit sie sich ihm anvertraut hatte. Er hatte die Dinge in die Hand genommen. Er würde sie verteidigen. Sie war nun Teil einer neuen Familie, und zum ersten Mal mochte sie ihr Viertel, ihr Haus und dessen Bewohner.
»Danke«, sagte sie leise. »Es tut mir gut, mit Ihnen zu reden.«
Und als könnte sie ihrem Drang zu Vertraulichkeiten einfach nicht widerstehen, fügte sie hinzu: »Es ist nicht leicht als alleinstehende Frau. Man muss so stark sein, energisch und entschlossen, und das bin ich alles überhaupt nicht. Mir wäre es lieber, ich könnte alles langsam angehen lassen, ganz langsam …«
»Wie eine kleine Schildkröte?«, fragte er und sah sie wohlwollend an.
»Eine kleine Schildkröte, die mit zwei Stundenkilometern vorwärtskriecht und vor Angst fast umkommt!«
»Ich mag Schildkröten sehr«, sagte er sanft. »Es sind sehr liebevolle Tiere, wissen Sie, sehr treu … Sie verdienen es wirklich, dass man sich für sie interessiert.«
»Danke«, antwortete Joséphine lächelnd. »Das nehme ich als ein Kompliment!«
»Als ich noch ein Kind war, bekam ich eines Tages eine Schildkröte, sie war meine beste Freundin, meine Vertraute. Ich nahm sie überallhin mit. Sie werden sehr alt, sofern sie nicht durch einen Unfall …«
Bei dem Wort »Unfall« stockte er. Joséphine dachte an die überfahrenen Igel am Straßenrand. Jedes Mal, wenn sie einen dieser blutigen Kadaver sah, schloss sie vor Trauer und Ohnmacht die Augen.
Sie fuhr sich mit durstiger Zunge über die Lippen und seufzte.
»Ich sterbe vor Durst.«
Er sah zu, wie sie anmutig ihr Glas hob, mit kleinen Schlucken trank und sich dazwischen immer wieder nicht vorhandene grüne Tropfen aus den Mundwinkeln wischte.
»Sie sind sehr rührend«, sagte er leise. »Man möchte Sie einfach nur beschützen.«
Es lag keine Großspurigkeit in seiner Stimme. Und aus seinem zärtlichen, liebevollen Tonfall hörte sie nicht den Hauch eines Flirts heraus.
Sie hob den Kopf, sah zu ihm auf und lächelte vertrauensvoll.
»Vielleicht könnten wir uns dann jetzt beim Vornamen nennen?«
Er wich zurück und wurde blass. Stammelte: »Ich glaube, nicht, nein, ich glaube, nicht.« Wandte den Kopf ab. Hielt nach einem anderen Ausschau, der nicht kam. Legte die Hände auf den Tisch, zog sie brüsk wieder zurück und legte sie auf die Knie. Verwundert richtete sie sich auf. Was hatte sie denn gesagt, dass seine Stimmung so unvermittelt umschlug? Sie entschuldigte sich.
»Ich wollte nicht … Ich wollte Sie nicht bedrängen … Ich dachte nur, wir könnten … Wir könnten vielleicht Freunde werden.«
»Möchten Sie noch etwas trinken?«, fragte er mit ruckhaften Kopfbewegungen wie ein Pferd, das vor dem Hindernis scheut.
»Nein. Vielen Dank. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin, aber …«
Sein Blick wich nach rechts aus, nach links aus, und er drehte sich schräg von ihr weg, um zu verhindern, dass sie näher rückte oder eine Hand auf seinen Arm legte.
»Ich bin manchmal so ungeschickt«, entschuldigte sich Joséphine noch einmal, »aber ich wollte Sie wirklich nicht verletzen …«
Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und suchte nach Worten, um das wiedergutzumachen, was er als ein unverschämtes Eindringen in seine Privatsphäre aufgefasst hatte. Da ihr nichts einfiel, stand sie auf, bedankte sich und ging.
Als sie sich an der Straßenecke noch einmal umdrehte, sah sie die van den Brocks, die zu ihm an den Tisch traten. Monsieur van den Brock legte eine Hand auf Lefloc-Pignels Schulter, als wollte er ihm Mut machen. Vielleicht kennen sie sich schon lange … Es muss lange dauern, sich mit diesem Mann anzufreunden, er wirkt so unnahbar.
Die Tür zu Iphigénies Loge stand halb offen. Joséphine klopfte an die Scheibe und trat ein. Iphigénie trank Kaffee mit der Pudelbesitzerin, dem alten, weiß gepuderten Herrn und einem jungen Mädchen in einem Musselinkleid, das bei seiner Großmutter im dritten Stock des Hinterhauses wohnte. Sie alle schilderten detailliert und unter zahlreichen Ausrufen ihre Vernehmung, während Iphigénie Plätzchen herumreichte.
»Haben Sie schon gehört, Madame Cortès?«, rief Iphigénie und winkte Joséphine, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen. »Anscheinend haben sie vor drei Wochen die Leiche einer Kellnerin gefunden, die auf genau die gleiche Art erstochen wurde wie die Bassonnière!«
»Haben die Ihnen das nicht gesagt?«, fragte
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