Der langsame Walzer der Schildkroeten
Als wäre das nicht nötig. Als wären sie bereits glücklich. Sie schienen darauf zu warten, dass etwas geschah. Sie wussten nicht, was. Eine der Ungarischen Rhapsodien von Liszt verklang. »Das muss Georges Cziffra gewesen sein«, sagte er, »ich erkenne seinen Anschlag.« Sie nickte.
Er trug keinen Ehering, das war ein Zeichen. Sein Herz war frei. Ein liebender Mann streichelt gerne seinen Ring, dreht ihn zwischen den Fingern, sucht ihn überall, wenn er ihn versehentlich auf einem Waschbeckenrand oder einem Regalbrett liegen gelassen hat. Er fürchtet, ihn verloren zu haben. Sie erinnerte sich nicht mehr, ob er einen Ehering getragen hatte, als sie ihn in der Loge der Concierge gesehen hatte. Oder hatte er ihn seitdem abgelegt? Nachdem er ihr begegnet war …
Auf Radio Classique kündigte eine Stimme mehrere Strauß-Walzer an. Hervé Lefloc-Pignel schien aus seinem Tagtraum aufzuwachen. Seine Lider erbebten.
»Können Sie Walzer tanzen?«, fragte er leise.
»Ja. Wieso?«
»Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei.« Seine Hände fuhren durch die Luft. »Man vergisst alles. Man wirbelt, wirbelt herum. Ich wäre gerne Tänzer in Wien geworden.«
»Davon hätten Sie aber keine Familie ernähren können.«
»Ja, das ist schade«, antwortete er traurig. »Manchmal tanze ich in meinem Kopf …«
»Wollen wir jetzt tanzen?«, fragte Iris leise.
»Hier? Im Wohnzimmer?«
Sie schaute ihn ermutigend an. Ohne sich zu rühren. Ohne die Arme nach ihm auszustrecken. Mit der Zurückhaltung junger Mädchen des vergangenen Jahrhunderts auf den Abendgesellschaften, die ihre Mütter organisierten, um sie zu verheiraten. Ihre Augen sagten: Wagen Sie es doch, aber ihre Hände lagen züchtig in ihrem Schoß.
Unbeholfen und mit den steifen Hüften eines eingerosteten Mannes stand er auf, kam zu ihr herüber, beugte sich zu ihr herab, strich sich das Haar aus der Stirn, reichte ihr einen Arm und führte sie in die Mitte des Wohnzimmers. Sie warteten den Beginn eines neuen Walzers ab und tanzten los, ohne einander aus den Augen zu lassen.
»Das bleibt unser kleines Geheimnis …«, flüsterte Iris. »Sie dürfen es niemandem verraten.«
Philippe verschob seinen eingeschlafenen Arm.
»Nicht bewegen …«, protestierte Joséphine. »Es ist gerade so gemütlich.«
Er lächelte gerührt. Die Zärtlichkeit, die von ihren ineinander verschlungenen Körpern aufstieg, war den Angriff einer Armee von Ameisen doch wohl wert. Er drückte sie an sich, roch an ihrem Haar und bemerkte ein Parfüm, das er kannte. Glitt zu ihrem Hals hinab, um es zu identifizieren, über ihre Schulter, zu ihren Handgelenken. Sie erschauerte, drängte sich an ihn und weckte so das für einen Moment gestillte Verlangen erneut.
»Noch mal«, murmelte sie.
Und wieder vergaßen sie alles um sich herum.
Ihre Hingabe beim Sex war von geradezu religiöser Inbrunst. Als kämpfte sie darum, dass inmitten der Trümmer dieser Welt jenes Licht zweier Körper erhalten bleibt, die miteinander schlafen, weil sie sich aufrichtig lieben und nicht nur Gesten und Stellungen imitieren. Ein aufblitzender Funke, der eine simple Berührung der Haut in ein loderndes Feuer verwandelt. Diese Gier nach dem Absoluten hätte ihn erschrecken können, aber er wollte nichts lieber, als seinen Durst an ihrer Quelle stillen. Die Zukunft schmeckt nach Frauenlippen. Sie sind die Eroberinnen, die die Grenzen immer weiter hinausschieben. Wir sind flüchtige Epheben, die sich als Statisten in ihr Leben schleichen, doch ihnen gebührt die Hauptrolle. Aber das ist mir ganz recht, dachte er, während er Joséphines Parfüm einatmete, ich will lernen, so zu lieben wie sie. Früher liebte ich ein schönes Bilderbuch. Jetzt hungere ich nach anderer Lektüre. Zu lieben, wie man ins Abenteuer zieht. Wer als Mann zu wissen glaubt, was im Geist einer Frau vor sich geht, ist verrückt und völlig ahnungslos. Oder anmaßend. Er hätte niemals damit gerechnet, dass sie zu ihm an den Tisch vor einem englischen Pub kommen würde. Und doch … Sie hatte sich vor ihm aufgebaut. Sie wollte Bescheid wissen. Frauen wollen immer Bescheid wissen.
»Joséphine! Was machst du denn hier?«
»Ich bin nach London gekommen, um meinen Verleger zu treffen. Die Demütige Königin wurde von einem englischen Verlag gekauft, und es gab eine Menge zu klären. Praktische Details wie das Cover, den Umschlagtext oder die Presseinformationen, lauter Dinge, die man nicht per Mail oder am Telefon entscheiden kann, und …«
Sie schien
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