Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
Vom Netzwerk:
minutenlangen Pirouetten, die sich zu einem kreiselnden Schweben gesteigert hätten: So hoch wie eine Handbreit über den Brettern! Eine artistische Meisterleistung! Damit aufs wunderbarste kontrastiert hätte der zauberhafte Tanz ihrer Hände. Margarita erzählte, so habe einer berichtet, Geschichten der Stille. Alles schwieg, auch die Musik. Man hörte nichts, doch alle hörten zu. Und der, der das sagte, hatte gemeint: Mir war, als hätte ich dort in mein eigenes Herz geblickt.
    Sie soll, erzählte Isabelle ihrer Mutter weiter, in den letzten Wochen vor ihrem Tod aber nicht mehr getanzt haben. Einige hätten eine Schwangerschaft vermutet. Sie sei auch mehrmals mit einem schnauzbärtigen jungen Mann gesehen worden. Einmal habe der Schnauzbart eine Uniform getragen. Ja, hätte Margaritas letzte Zimmerwirtin gesagt, es könne die einer Bahngesellschaft gewesen sein.
    Sie selber, so die Wirtin, habe drei Kinder, aber so viel Blut bei einer Geburt, das sei ihr gleich ein schlechtes Zeichen gewesen. Nein, das junge Fräulein sei aus der Klinik nicht wiedergekommen. Nur der Schnauzbart sei noch einmal erschienen und habe die ausstehende Miete beglichen.
    Ein paar Wochen später hatte Isabelle den Namen des Schnauzbartes herausgefunden, den wir längst als Arno Brügg identifizierten.
    Als Isabelle, nach Cottbus gereist, Arno Brügg neben einer jungen Frau und hinter einem Kinderwagen an der Spree entlangspazieren sah, verwickelte sie die Frau, während der Mann Eis kaufen ging, in ein Gespräch. Dabei betrachtetesie das rosige Gesicht des schlafenden Kindes, ohne sich selbst zu erkennen zu geben. Ja, sie äußerte kaum mehr als jene Art verzückter Komplimente, wie sie weibliche Wesen beim Anblick eines Säuglings auszustoßen pflegen. Doch plötzlich schlug das Kind die Augen auf und blickte sie fragend, wie ihr schien, an. Da war ihr ein Ausruf entfahren, wofür sie sich später schalt. Denn der Satz
Schade um die Mutter!
musste die junge Frau – was wir bestätigen können – verwirren.
    Eine Entschuldigung murmelnd war Isabelle davongeeilt, noch ehe Arno Brügg, zwei Eis in der Hand, herangekommen war. Erst als sie das Paar samt Wagen nach einer Wegbiegung hinter Büschen und Bäumen verschwunden wusste, sank Isabelle auf eine der Uferbänke und fiel in tiefes Schluchzen. Sie weinte um ihre Tochter, doch mehr noch um ihre eigenen glücklosen Lieben. Und sie beschloss, sich fernzuhalten von ihrem Enkel. Damit das Unglück nicht übergehe auf ihn.
    Um die Entscheidung unumkehrbar zu machen, wischte Isabelle ihre Tränen hinweg und sprang in den Fluss.
    Der Fluss aber wollte das nicht und schob sie sanft, doch mit Nachdruck auf eine Sandbank. Dort stand die verhinderte Selbstmörderin triefend und schniefend. Den Tod hätte ich genommen, dachte sie, aber eine Erkältung will ich nicht. Dankbar kroch sie in die bereitgehaltene Jacke eines herbeigeeilten Spaziergängers. Und in seine Arme später auch.
    Unerwartet hatte so für Isabelle doch noch mal ein neues Leben angefangen. Plötzlich konnte sie wieder riechen, was sie seit Jahren nicht gerochen hatte: den blühenden Holunder im Juni.
     
    Das geschah sieben Jahre nachdem König Kalākaua mitten auf einer Dienstreise im Jahr 1891 erst ins Träumen und dann ins Sterben geraten war. In der Zeit zwischen Träumenund Sterben hatte er beschlossen, an sein verlorenes Volk noch einmal das Wort zu richten. Zu diesem Zweck ließ er sich einen Edison’schen Phonographen nebst Tonmeister kommen.
    Er bat einen Bediensteten, doch bitte im Kamin kräftig Holz nachzulegen, denn die feuchte Kühle des Januartages drang durch die Fenster herein. Nachdem er sich mit Hilfe des Dieners angekleidet hatte – es soll seine weiße Galauniform gewesen sein –, nahm er, in der Hand einen Packen dicht beschriebener Blätter, im Sessel Platz. Vor ihm stand der Apparat, und der Tonmeister wartete nur noch auf Kalākauas Zeichen, die Kurbel mit der Wachswalze zu drehen. Doch plötzlich, mit einem schmerzlichen Ausdruck im Gesicht, warf Kalākaua die vorbereitete Rede ins Feuer. Laut und deutlich mit einer Spur von Trotz in der Stimme sprach er in den Schalltrichter:
Richten Sie meinem Volk aus, ich habe mich bemüht!
    Nach diesem Satz, so heißt es, habe der Apparat versagt. Von denen, welche die Wachsmatrize später abhörten, behaupteten einige, des Königs aus dem Trichter leise und blechern klingende Stimme habe nicht das Prädikat des zweiten Halbsatzes, sondern dessen Subjekt betont.

Weitere Kostenlose Bücher