Der Lavagaenger
sein. Eine Befürchtung, die nun um so sicherer eintrat, als die beiden Frauen sie zu verhindern gesucht hatten.
Es fiel Margarita nicht schwer, stets hilfsbereit und älterer Damen Koffer tragend, sich zu deren mitleidigen Herzen Zugang zu verschaffen. Da nach Margaritas Ansicht Klagen über eine allgemeine Alltagsödnis eher Kopfschütteln über die heutige Jugend hätten hervorrufen können, beließ sie es bei dunklen Andeutungen. Diesevollendeten in der Phantasie der jeweiligen Zuhörerin düster ihr Werk, was Margarita an deren schreckweiten Augen erkannte. Dann war es Zeit, von einem jahrelang gefüllten Sparschwein zu reden und von väterlicher Trunksucht, die das rosarote Porzellan und die kindlichen Träume gleichermaßen zerschlug.
Einiges Geld, das sie selbst aus der Wäschekommode der Großmutter entwendet hatte, erwähnte sie wohlweislich nicht. Wie hatte Oma sie gelehrt: Spare in der Zeit …
Margarita hatte zunehmend Spaß an ihrer Leidensgeschichte. Sie variierte und ergänzte die Erzählung um einen verbrecherischen Onkel und führte einen älteren Bruder ein, der immer wieder selbst Hand an sich legte. Sie ließ in einer weiteren Folge die Mutter auf unsittliche Weise das Familieneinkommen aufbessern und machte die Großmutter zur Hexe. Letztere verwandelte in einem harten Winter, als wie so oft das Geld fürs Brot nicht reichte, Margaritas Lieblingskatze in einen Hasen.
Ja, es war der Heilige Abend, und alle, alle haben sie davon gegessen! Nur ich, ich konnte das nicht.
Eine Ausdenkerin von Geschichten könnte man werden, wenn – damit spann sie für sich ihre Passionsgeschichte gleich weiter – sie sich den Knöchel tragisch verletzen und ihr vielversprechendes Tanztalent verdorren sollte.
Hier eine Fahrkarte, dort eine Bockwurst oder ein Glas Tee von den reisenden Damen spendiert, das waren handfeste literarische Erfolge, von denen, wie sie bald erfuhr, andere junge Autoren nur träumten.
An einen solchen nämlich geriet Margarita nach ihrer Ankunft in Berlin. Er nannte sich Oskar Maximilian Große, hauste in einer Dachkammer und liebte von allen Worten am meisten das
Oh
. Nach einigen romantischen Wochen in seiner Klause, oh, da war das Großmuttergeld aufgebraucht. Beide versuchten, auf dem Ostbahnhof Reisendemittels erdichteter Wahrheit zu Mäzenen zu machen. Dies schlug leider fehl.
Wie sollen uns die Leute glauben, sagte Margarita. Wenn ich Onkel Isidor gerade seine Pistole unterm Kinderbett verstecken lasse, deklamierst du: Oh, Finsternis, oh, große Not …
Oskar war tief gekränkt. Lieber wie ein Dichter sterben, rief er aus, als wie ein Lügner leben!
Sie starben nicht. Ihr Leben in der Dachkammer war wie ein Märchen: ein Hexenbackofen im Sommer, ein Schneeköniginnenpalast im Winter. Margarita übte, weil es für Sprünge zu eng war, die Spindel, wie sie diese Tanzfigur nannte. Sie drehte sich wieder und wieder um ihre eigene Achse. Sauste, auf der Spitze eines Fußes stehend, tatsächlich wie eine Spindel um ihre Mitte: Stroh zu Gold, Stroh zu Gold …
Meist aber, während Oskar Tag für Tag einem altersblinden Spiegel sein Oh! entgegenschleuderte, versuchte Margarita mit Näharbeiten Geld einzubringen. Als sie einen ersten Auftrag erhielt, erfüllte sie ihn mit großem Eifer, aber auch mit schiefen Nähten, so dass sich nur wenig Kunden in die Kammer verirrten.
Während kalter Januarwochen erdachte sie sich Erwärmungsübungen für die Hände, die sie zu einer Art Hand- und Fingerpantomime perfektionierte. Sie ahnte nicht, dass die Tänzerinnen auf den warmen Inseln ihres Vaters auf diese Weise ganze Epen zu erzählen verstanden.
Die Kälte, die Enge, der Hunger, all das hätte Margarita noch lange ertragen, hätte ihr Dichterfreund sie nicht fast nur noch von imaginären Gipfeln herab gegrüßt. Eines Tages, im blinden Spiegel seufzte es eben von ewiger Liebe, oh … verließ Margarita die gemeinsame Kammer, unbemerkt und für immer.
Sie soll, fand Isabelle später, als sie ihrer Tochter nachforschte, heraus, eine Zeitlang tatsächlich auf einer Bühnegetanzt haben. Ihre Mutter nannte den »Froschkönig« ein ziemlich schmieriges Lokal. Dort, so meinte Isabelle nach ihrer Rückkehr aus Berlin, hockten tatsächlich vornehmlich alte Quaker, die sich eine Prinzenschaft erhofften, wenigstens für eine Nacht.
Einige der Gäste, die Margaritas Darbietungen erlebt hatten, sollen Isabelle gegenüber von einem erstaunlichen Talent gesprochen haben. Da war die Rede von
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