Der Lavagaenger
fähig, sich von akademischen Titeln beeindrucken zu lassen. Doch der Mann erinnerte sie an ihren Vater. Sie sagte das auch.
Estragon nahm es mit einem missbilligenden Blick zur Kenntnis, doch schon schwang er, eine Zigarette im Mundwinkel, die Weinflasche. Sie erlauben doch, Herr Professor?
Eigentlich, sagte Estragon und war in seinem Element, können wir gleich die nächste bestellen.
Du tust, sagte Siyakuu staunend, als wäre nichts passiert.
Was ist denn passiert? Meinst du den deutschen Überfall auf Polen? Oder, jetzt wurde er laut und provozierend, meinst du die Deportationen?! Leiser fügte er hinzu: Siyakuu, es ist so lange her.
Malinowski hatte sich, von Estragons Bemerkung erschreckt, eine der ausliegenden Zeitungen gegriffen. O Gott, entfuhr es ihm, sie sind tatsächlich in Polen eingefallen. Die Herrenmenschen marschieren weiter. – Das ist heute schon die zweite Botschaft für Hiob. Sie müssen wissen … setzte Malinowski zu einer Erklärung über seinen missglückten Konferenzauftritt an, doch plötzlich erschien ihm sein persönlicher Misserfolg banal, ja lächerlich. Beklagenswert nur im Sinne eines Triumphs der Zumpfhagens. Ach, sagte er, lassen wir das.
Ja, lassen wir das, sagte Estragon resigniert, es ist vorbei. Vergessen …
Plötzlich sprang er auf, legte zwei Finger auf die Oberlippe und imitierte mit düster rollender Stimme den neuen deutschen Feldherrn:
So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?
Estragon ließ sich zurück auf den Stuhl fallen und griff erneut zur Flasche.
Du hast recht, sagte er, es ist nicht vorbei. Aber: Haben wir uns deshalb getroffen? Getroffen, um zu klagen?
Das ist es nicht: Du spielst Theater. Das Stück heißt
damals
. Du spielst
früher
. Du spielst
jung sein
… was weiß ich. Du bist es nicht, aber du spielst es.
Dreiundvierzig. Sagen Sie, Herr Professor, ist das alt? Ist das alt?! Oh, ja das ist alt. Weh mir, wenn es Winter wird … weh dir, Siyakuu … weh auch Ihnen, Professor Winterhaar … weh uns … woher nehmen wir …
die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Estragon hob sein Glas gegen das Licht und betrachtete einen Moment den funkelnden Wein. Dann setzte er es hart auf den Tisch und fuhr fort:
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Einen Moment schwiegen alle drei. Es war, als lauschten sie einem eisigen Klirren, das bis in diesen Zipfel Europas drang.
Kommen Sie doch mit nach Südland!
Das war ein Angebot, von dem Malinowski selbst noch nicht wusste, was es bedeutete. Aber einmal ausgesprochen, weckte es Neugier, führte es weg von Hölderlin’ scher Verzweiflung. Es war ein kleiner Wimpel, der aufgezogen wurde. Ein anderes Zeichen. Anders als klirrende Fahnen, klirrendes Glas, klirrende Waffen.
Südland?
Ja, Rutas, die Heimat des Menschen.
Heimat?! Ha, Heimat!, Estragon lachte bitter. Als gäbe es so etwas wie Heimat. Nicht für ihn. Einer hätte es für ihn sein können: Hans, dieser tapsig starre Bahnbeamte, in dessen dunklen Augen manchmal etwas lag, wovon er wohl selbst nichts ahnte. Eine Weisheit, so wie Kinder sie haben, ohne darum zu wissen. Bei Hans aber eine verschüttete Weisheit. Hätte er sonst zugelassen, dass sie Siyakuu in den Zug stecken? Ahmad hatte es nicht zugelassen, auch wenn er es nicht hatte verhindern können.
Diese Türken, es sind eben Asiaten, hatte Estragon damals gedacht, barbarisch, kulturlos. Und jetzt: Die deutschen Hunnen machten ihrem Namen böse Ehre. Millionenfach verlorene Kinderweisheit, achtlos liegen gelassen, preisgegeben den Straßenkötern, die sich drum balgten.
Damals, er hatte den fiebernden Hans schon schweren Herzens zurück nach Aleppo geschickt, sah er zwei Hunde sich balgen um ein Stück Fleisch. Er verscheuchte sie mit Steinwürfen. Er ging, weil dort, wo Hunde sind, eine menschliche Ansiedlung sich befindet, ihnen nach, den Hügel hinauf. Als er an der Stelle vorbeikam, wo die verjagten Köter ihre Beute hatten fallen lassen, und sein Blick darauf fiel, sah er: Es war eine Hand, eine kleine Hand, die Hand eines Kindes.
Wochen später, als er Siyakuu in ein Krankenhaus brachte, sah er dort ein Kind, das trug Verbände, dort, wo eigentlich die Hände sein
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