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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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einem benachbarten Gebäude, auf dessen Dach eine zerschlissene deutsche Fahne hing.
    Siyakuu rannte geduckt zu der kleinwüchsigen Frau, die sie an der Hand packte und in den Schutz des Hauses schob. Gleichzeitig sprang eine kahlgeschorene Gestalt hervor und lief in der Art eines Affen, mal eine, mal zwei Hände zur Fortbewegung nutzend, auf die Straße. Augenrollend und wild gestikulierend zog das Wesen erst den leblosen Ismael, dann die Maultiere herein.
    Ehe Siyakuu sich besinnen oder gar fragen konnte, war die kleine Frau verschwunden. Die anderen Hausbewohner waren inzwischen herbeigelaufen und führten Siyakuu zu einem Stuhl. Der Geschorene hatte sich, kaum dass die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war, aufgerichtet. Er, ein Halbwüchsiger, den die anderen Alexa nannten, legte Ismael auf eine Bank. Dieser Alexa schien völlig normal, als er sich mühte, Ismaels Wunde zu versorgen.
    Es dauerte nicht lange, da kam die kleine Frau unter Poltern und Schimpfen eine Treppe herunter. Ihre rechte Hand langte aufwärts an den Kragen eines jungen Mannes, während ihre linke ein Gewehr hielt.
    Für einen Moment schien es, als schleppe der große Kerl die kleine Frau wie ein Anhängsel hinter sich her, als genüge ein Schütteln seines stämmigen Nackens und sie flöge einem Bündel gleich in die nächste Ecke. Doch er wagte nicht, sich zu rühren, sondern blickte betreten zu Boden.
    Die Frau warf das Gewehr wütend auf die festgestampfte Erde und stieß den Burschen zu der Bank, auf der Ismael lag.
    Alexa sah auf und hob hilflos die Schultern.
    Da, sieh!, schrie die Frau und gab dem anderen Burschen noch einen Stoß. Sieh dir das an! Sieh, was du angerichtet hast!
    An die Umstehenden gewandt, schnaufte sie erregt: Dieser Idiot saß auf dem Dach unter der Fahne, die uns schützen soll, und schoss auf alles, was auch nur entfernt einem Türken ähnlich sah.
    Seit Tagen wurde das armenische Viertel belagert. Mit zwei Geschützen versuchte das osmanische Militär, den Aufstand der Armenier niederzuschlagen.
    Die armenischen Bewohner von Urfa hatten monatelang die durchziehenden Elendszüge ihrer Landsleute erlebt. Eher wollten sie sterben, als deren Schicksal zu teilen. Auf etlichen Dächern hatten sich armenische Scharfschützen postiert. Der vom Dach des Hauses stand jetzt schuldbewusst vor Ismaels Leiche und schwieg.
    Die kleine Frau, von den Hausbewohnern nur Herrin genannt, kümmerte sich später um Siyakuu. Sie hatte vor einem Jahr noch dem vom deutschen Pfarrer Lesepius gegründeten Waisenhaus für armenische Kinder vorgestanden. Bald nach Kriegsbeginn war die ehemalige Karawanserei vom Militär beschlagnahmt worden.
    Die Kinder haben sie
fortgebracht
. Ha, fortgebracht! Jeder hier weiß inzwischen, was das heißt!
    Einige der Kinder hatte die kleine Frau verstecken können. Es war Ismael gewesen, der sie nach und nach aus der Stadt schmuggelte. Der fünfzehnjährige Alexa hatte die Rolle eines Irren übernommen und war bisher unbehelligt geblieben.
    Anfangs, erfuhr Siyakuu, habe man Ismael misstraut. Würde er die Kinder nicht nur an reiche Araber verkaufen? Doch war es nicht besser, als Haussklave zu überleben, als in der Wüste zu verdursten? Endlich war von einem amerikanischen Gewährsmann Nachricht gekommen. Dem Missionar war es mit Gottes und, mehr noch, mit Geldes Hilfe gelungen, eine lebensrettende Route einzurichten. Die Kinder, vermeldete er, hatten Haifa sicher erreicht.
    Ismael selbst habe kaum ein Wort darüber verlauten lassen. Wie er auch sonst sehr wortkarg gewesen sei. Es ging das Gerücht, er habe nach einem Streit mit seinem Nachbarn, als der mit seiner Familie zu einem Verwandtenbesuch aufgebrochen war, dessen Haus angezündet. Es war aber doch noch jemand in dem Haus gewesen, ein krankes, halbwüchsiges Mädchen.
    Einmal, so sagte die kleine Frau, als ich ihn zufällig am Teich der roten Fische traf, erzählte er mir die Geschichte von Abrahams Rettung. Er hatte recht: Wir sind alle Abrahams Kinder. Möge Gott, sagte er, wenn wir am Ende unseres Lebens ankommen, das Feuer in kühles Wasser verwandeln.
    Erst am späten Abend ebbte der Geschützdonner ab. Feuerschein fiel durch das Fenster in Siyakuus Kammer. Sie dachte an ihren Vater, an Ahmad und an Estragon. Und sie dachte an Hans Kaspar. Wie sich alles hatte so schnell ändern können. Erst das Seidenraupenhaus, jetzt hier. So plötzlich. Nein, nicht plötzlich. Es fängt immer irgendwann an: eine hämische Bemerkung auf dem Markt,

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