Der Lavagaenger
sollten. Eine Ärztin erzählte, man habe, als man seine Familie tötete, das Kind verschont. Doch um sicherzugehen, dass es sich nie werde rächen können, habe man ihm die Hände abgehackt.
Noch lange danach träumte Estragon, er hat Hans wiedergefunden und will eben sein Gesicht berühren. Plötzlich sieht er: Dort, wo seine Hände waren, sind nur noch traurige Stümpfe.
Ende 1918 war Estragon mit Siyakuu in Haifa gelandet. Fürs Erste fand man in einer Siedlung deutscher Templer ein Unterkommen. Im Durcheinander dieser Nachkriegszeit entstand im Nahen Osten ein neuer Staat nach dem anderen, doch Heimat?
Der Weltstadtmensch Estragon träumte vom Landleben. Mit dem nackten Klumpfuß auf der Wiese Heu machen. Buttern. Brot backen. Geruch nach Dung und warmen Kühen. Ein Garten, die bitteren Astern im Nebel, knallende Tulpen im Frühling. Gewürze im Sommer: Salbei, Dill, Estragon. Sich selber endlich riechen können. Endlich irgendwo zu Hause sein.
Dann zurück in Deutschland, eine Landkommune in Thüringen: ein Dutzend Erwachsene, eine Handvoll Kinder. Landbau, Handwerk, Lieder singen. Jeden Tag die Bergpredigt. Lesen, gut. Aber leben?
Estragon musste ins Gewöhnliche, Rohe, Fleischliche zurück. Er fühlte sich als ein Judas. Und als ein Christus. Bin ich Fleisch geworden, um zu leiden? Er lebte im Hinterzimmer einer Villa für die stets gleiche sexuelle Dienstleistung zweimal die Woche. Einmal machte er mit seinem Gönner einen Ausflug mit der Bahn. An einem Bahnübergang stand in Habachtstellung der Schrankenwärter.
Was, dachte Estragon, wenn ich jetzt Hans wiedersähe? Er sah ihn wieder, denn der Schrankenwärter war Hans Kaspar Brügg, ohne dass der ihn wahrnahm, geschweige erkannte.
Tage später fuhr Estragon dieselbe Strecke noch einmal, allein. In Krahnsdorf-Brandt verließ er den Zug. Er traf Hans Kaspar wie vermutet an seiner Bahnschranke. Er bearbeitete gerade mit einer Hacke die kleine Rabatte vor dem Wärterhäuschen.
Er muss mich von weitem gesehen haben, erzählte Estragon später, doch er arbeitete ungerührt weiter. War auch nicht überrascht, als ich ihn ansprach. Er streckte mir die Hand hin, so beiläufig, wie er wohl einen Nachbarn begrüßte. Während ich redete, hielt er die ganze Zeit mit beiden Händen seine Hacke, wie ein mittelalterlicher Torwächter seine Lanze, schräg vor der Brust. Er wirkte so unberührbar in seiner Uniform. Sagte nur, es ginge ihm gut. Fragte nicht einmal nach dir, Siyakuu. Er wirkte erleichtert, als im Haus der Fernsprecher läutete.
Da war Estragon gegangen und hatte den nächsten Zug bestiegen, ohne zu wissen, wohin der fuhr. Es war ihm egal. Er wollte nur weg.
Bald darauf türmte er mitten in der Nacht aus seiner Bleibe. Rechtzeitig. So musste er nicht wie sein Vermieter im Lager einen Winkel tragen, rosarot. Ein umgekehrtes Kainsmal, Ausgestoßener unter den Ausgestoßenen, Estragon trug es im Herzen. Schließlich war er ein zweites Mal in die Türkei gegangen, in das Land, dessen Sprache erimmerhin sprach. – Aber Heimat? Dieses Wort kannte er nicht.
Also, wie ist es. Kommen Sie mit nach Südland!
Südland? Ach so, das war ja immer noch Professor Winterhaar, der da sprach, der sich in Begeisterung geredet hatte über seine Theorie von der menschlichen Urheimat.
Dahin gab es keinen Weg. Nicht für Estragon. Estragon muss sterben, dachte Estragon. Wie kann man leben, wenn man den Namen eines Gewürzes trägt? Wenn jeder, der diesen Namen hört, an Essig denkt und Sauce Béarnaise. Nicht an … einen Ozeanüberflieger, einen Telegrafenerfinder, einen Unsterbliche-Verse-Dichter. Nicht einmal zum Diktatorgehilfen hat es gereicht, trotz des Hinkefußes.
Letzteres ließe sich immerhin noch als Verdienst in die Lebensabrechnungskladde eintragen. Gefallener Engel mit Chance zur Rehabilitation? Nein, so tief ist er gefallen, da ging die Erinnerung an den Himmel verloren. Wer ihn sieht, sieht einen Hinkefuß. Wer ihn kennt, kennt einen gezeichneten Menschen. Das umgekehrte Kainsmal: einer, der seinen Bruder nicht erschlug, sondern liebte.
Estragon, diesem essigsauren Leben wolltest du eine milde Würze geben. Dies nicht, nichts überhaupt ist dir gelungen. Du hinkst über die Halbmarke des Lebens und vermagst nicht einmal ein Gedicht darüber zu verfassen. Was für ein trauriger Zustand. Beende ihn. Gründlich.
Wenige Tage später verließ Estragon das Haus, in dem er ein Zimmer gemietet hatte. Er ging ganz ruhig. Nicht wie gewöhnlich überhastet.
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