Der Lavagaenger
eine kleine Verordnung, eine Überprüfung auf dem Revier, dann plötzlich – ja, doch plötzlich – sind die Pogromgeschichten aus dem fernen Gestern ins hautnahe Heute gerückt. Und sie selber mittendrin.
In der Nacht war der Himmel ihrer Träume mit roten Fischen gefüllt. Ein Boot fuhr übers Wasser, darin die Gefährten, der Vater. Sie winkten. Sie ging, als sei es eine feste Straße, übers Wasser. Dann sank sie ein. Das Boot in Flammen, der See in Flammen. Sie versank, und sie wollte versinken, weil die Tiefe so kühl war.
Geschrei, Geschrei, immer lauter das Geschrei. Siyakuu schrak auf. Das Haus brannte.
Am anderen Morgen entschuldigte sich der Artillerieoffizier, ein deutscher Graf, in ausgesuchten Worten bei der kleinen Frau für das, wie er es nannte, Malheur. SeinBursche brachte die Reste der schwarz-weiß-roten Fahne. Der Graf schlug die Hacken zusammen und salutierte.
Immerhin, sagte er forsch, haben sich die Rebellen heute Morgen ergeben.
Von fern hörte man Gewehrsalven. Der Graf zuckte zusammen. Und die kleine Frau sah ihn fragend an: wieder die Männer?
Der Graf nickte und schüttelte, als könne er damit etwas ausrichten, sogleich den Kopf. Nein, das ist nicht schön, murmelte er, gar kein Ruhmesblatt für unsere türkischen Freunde. Aber was soll man tun. Die Armenier sind uns in den Rücken gefallen.
Der Blick des Grafen glitt über die rauchenden Trümmer. Selbstverständlich, sagte er hüstelnd, werden meine Leute für die Aufräumarbeiten zur Verfügung stehen, wenn die gnädige Frau es wünschen.
Sie wünschte nicht. Man fand Zuflucht in der benachbarten Teppichfabrik.
Im armenischen Viertel Urfas lebten nunmehr nur noch Frauen, Kinder und einige gebrechliche Alte. Der deutsche Besitzer der Fabrik nahm Siyakuu in die Reihen seiner armenischen Arbeiterinnen auf. Ein fadendünner Vorarbeiter führte sie freundlich zu dem Brunnen auf dem Fabrikhof und hieß ihr, für die Pausen frisches Wasser heraufzuziehen. Das blieb ihre Aufgabe, auch wenn sie bald gelernt hatte, Teppiche zu knüpfen, als hätte sie dies von klein auf getan.
Schon wenige Wochen danach wurden auch die verbliebenen Armenier aufgefordert, sich zur Deportation bereit zu machen. Die kleine Frau weinte tränenlos, und der Teppichfabrikant hob ohnmächtig die Arme. Schließlich verteilten sie Brot und getrocknete Datteln als Wegzehrung an die Ausgewiesenen.
Einige Stunden später begehrte am Fabriktor ein Polizeioffizier in Begleitung einiger Gendarmen Einlass. Manhabe leider strengste Weisung, auch die ausländischen Besitzungen zu durchsuchen, da es vorgekommen sei … auch, wenn sich hier sicher alles in bester Ordnung befände, aber … und so weiter und so fort.
Da stand Siyakuu schon auf dem Rand des Brunnens. Sie war fest entschlossen, diesmal nicht mit den anderen zu gehen. Zu viel hatte sie gehört, zu viel gesehen. Der morgige Tag hatte nur noch Grauen im Gepäck. Das Palaver am Tor wurde zum fernen Rauschen, und in der Tiefe des mit Holzbalken ausgesteiften Brunnens leuchtete ein Stück Himmel. War da nicht eine Stimme, die rief?
Komm! Siyakuu, komm!
Da wieder: Komm! Siyakuu, hab keine Angst!
Und noch einmal: Komm! Ich bin es, Alexa.
Tatsächlich, es war Alexas Stimme. Da schob sich auch schon über den gespiegelten Himmel der Tiefe der runde kahle Kopf des Jungen. Dann eine Hand, die zwischen den Balken hervorglitt und winkte.
Steig herab, es ist nicht schwer. Da, auf diesen Balken zuerst. Und gut festhalten. Ja, und jetzt …
Waren es sieben Tage oder sieben Wochen, die Siyakuu und Alexa in der feuchten Kühle ausharrten?
Sie sangen leise Lieder, kramten aus dem Gedächtnis die Märchen ihrer Kindheit, erzählten sich Anekdoten aus einer versunkenen, friedlichen Zeit. Ein Kaleidoskop der Worte, das sich zu immer neuen Bildern zusammenfügte. So vergingen die Tage. Nur nachts stiegen sie hinauf und verschwanden im abgedunkelten Zimmer der kleinen Frau.
Dann wieder überraschender Besuch von Gendarmen. Man habe da einen Hinweis erhalten …
Eines frühen Morgens schließlich vernahmen Siyakuu und Alexa vom Brunnenrand her die Stimme des armenischen Vorarbeiters. Brachte er gute Nachricht?
Doch er sprach türkisch, und auf Türkisch wurde ihm von zweien geantwortet. Man war unschlüssig, ob man eswagen sollte, in den Brunnen hinabzusteigen. Schließlich knallten Schüsse und peitschten in der Tiefe das Wasser, Holz splitterte, Erde stiebte, Stein barst. Dann war Stille. Drei Gesichter beugten sich
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