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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Weltfriedensformel, sondern Eisenbahner geworden.
    Manchmal, Helder, ist es ein bekritzelter Zettel, der sein Ziel nicht erreicht. Ein aufs Kleinste zusammengefalteter Zettel, der aus dem angeklappten milchweißen Fenster eines Postwagens der Deutschen Reichsbahn fiel, wie aus dem heiteren Himmel des 19. Mai 1981. Da absolvierte Helder ein Praktikum auf dem Halle’schen Bahnhof und hatte eben das Innere etlicher abgestellter Waggons inspiziert. Das selbstgewählte Thema einer von Helder schriftlich abzuliefernden Arbeit trug nämlich den Titel: »Zur Strategie der Vermeidung volkswirtschaftlicher Schäden an Transportmitteln im schienengebundenen Personenverkehr«.So listete sein Protokollheft Beschädigungen aller Art, die Reisende den Waggons zugefügt hatten. Sie reichten von breitgetretenem Kaugummi, über kleine pornographische Skizzen bis zu aufgeschlitzten Polstern. Momentan hatte Helder ein Problem: Wie war umzugehen mit der eben entdeckten Bleistiftkritzellosung
Erich ist doof?
Durfte oder musste man sie auflisten? Sollte man sie unter »Staatsfeindliche Parolen« subsumieren? Was aber, wenn nicht der oberste Erich sondern ein beliebiger Chef, Kollege, Exfreund beleidigt, geschmäht, verunglimpft war? Dann wäre ja Helder – behauptend, der Erich sei
der
Erich – der Verunglimpfer.
    Es sei denn … Es sei denn, der Verunglimpfte als einfacher Bürger war Mitglied der staatstragenden Partei, und somit – wo ein Genosse ist, ist die Partei – wären eben
die
Partei, der Staat, die Arbeiterklasse geschmäht. Damit wäre die Verunglimpfung für Helder noch einmal glimpflich ausgegangen. Eine Formfrage hatte sich als Sinnfrage entpuppt und geheimdienstliche Phantasien in Helder erweckt. Ja, da kaum einer der Deutschen Demokratischen Republikaner nicht Mitglied einer der staatstragenden Organisationen war, konnte davon ausgegangen werden, dass in jedem Fall der sozialistische Staat gemeint und der Frieden gefährdet war, selbst wenn da stünde
Susi ist doof
.
    Die Mittagsstunde war gekommen und Helder, erleichtert über die gelungene Quadratur des ideologischen Kreises, eben im Begriff, die Kantine aufzusuchen. Da kletterten aus einem abgestellten Postwagen zwei Männer. Obwohl sie keine Uniformen der Deutschen Reichsbahn trugen, sondern gewöhnliches Zivil, war ihre Ansprache an Helder von einer Art, die keinen Widerspruch aufkommen ließ. Nein, nicht im Befehlston, sondern mit kollegialer Verbindlichkeit forderten sie Helder auf, doch mal eben ein Auge auf den Postwagen zu haben. Man habe Dringendes zu erledigen. Und man könne sich doch auf den Jugendfreund – wiewar doch gleich dein Name? – sicher verlassen. Der Jugendfreund war halb geschmeichelt von der übergebenen Verantwortung, halb von der Ahnung gebannt, dass diese netten Männer mitnichten der Reichsbahn angehörten. Die Sicherheit des Staates, spürte man, nichts lag ihnen mehr am Herzen. Da brauchte, da wagte Helder keine Fragen und blieb stehen, wo er hingestellt worden war: auf seinem Posten vor dem Postwaggon an diesem heißen Maienmontag um die Mittagszeit.
    Helder, nach einiger Zeit von einem Bedürfnis getrieben, ging ein paar Schritte herum um den Waggon und ließ dort erleichtert sein Wasser. Da klopfte es. Irritiert schüttelte Helder ein paar Resttropfen ab. Mist, dachte er, den Übeltäter schleunigst verpackend, einer sieht tatsächlich immer zu.
    Es klopfte von drinnen an die Fensterscheibe, deren Milchglas einen Blick hinein nicht gestattete. Für Blicke hinaus, also auch auf Helder, schien einer von drinnen durch den Spalt des angekippten Fensters zu äugen. Denn sein Geklopfe war zielgerichtet und sicher, dass der Posten da eigentlich kein Posten war, sondern nur so hingestellt. Dann fiel der Zettel, so gefaltet, wie Schüler ihn falten, für dringende Botschaften an Auge und Ohr des Lehrers vorbei, vor Helders Füße.
    Was hat Helder getan?
    Er hat den Zettel aufgehoben. Instinktiv.
    Er hat den Zettel gelesen. Neugierig ist jeder.
    Er hat den Zettel in die Tasche gesteckt. Was zu tun war, wusste er nicht.
    Obwohl es der Zettel deutlich verriet: Informieren Sie bitte …
    Er informierte nicht die beiden netten Männer. Immerhin.
    Die kamen rauchend und plaudernd zurück, boten ihrem Posten an: Na, auch eine? und verschwanden in ihremWaggon. Vorher jedoch machten sie über das eben von ihnen genossene Essen eine Bemerkung, die anzeigte, dass sie durchaus zu kritischem Denken gesellschaftliche Fragen betreffend in der Lage

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