Der Lavagaenger
waren.
Helder aß an diesem Tag nicht in der Kantine, suchte so bald wie möglich sein möbliertes Zimmer auf und studierte die Postwagennachricht:
Helfen Sie!, stand da in mattem Bleistiftgrau, informieren Sie bitte …
Ja, wen denn nun? Etwa den – deeen? –, den Helder kannte vom Fernsehen: kahlköpfig, senkrecht oval das Gesicht wie waagerecht das Signet, welches seine Sendung und nicht wie üblicherweise die nationale Herkunft eines Kraftwagens kennzeichnete. Also aus D – wie Deutschland, Bundesrepublik Deutschland, das Zweidritteldeutschland damals nur.
Also den. Wie denkt der sich das? Und informieren worüber?
Dass ein Herr Krahlsberg unterwegs ist …
Ja, ich weiß, mit einem Postwagen der Deutschen Reichsbahn.
Unterwegs vom Roten Ochsen zum Gelben Elend.
Ach, daher weht der Wind:
Sag mir, wo du stehst!
Oder lieber sitzen willst. – Wie sprach doch ein berühmter Sachse:
Macht doch euern Scheiß alleene!
Hat’s gedacht. Und schon den kleinen Zettel klitzeklein gerissen. Und ins Toilettenbecken geworfen. Und gezogen. Gurgelnd, röhrend, zischend verschwand dort eine Hoffnung. Es war nicht seine. Aber seine Angst.
Elf Jahre später würde jeder, der davon erfuhr, wissen, dass Helders Handlung falsch war und feige. Das wusste er selbst schon im Moment, da er zog.
Weitere elf Jahre später erfuhr Helder aus seiner Heimatzeitung jedoch etwas Neues. Dort war ein Bericht über einen gewissen Krahlsberg erschienen. Helder las ihn zunehmenderregt. Nicht so sehr von den Details aus dem Alltag eines Bautzener Häftlings, sondern aus der Vorgeschichte seiner Verhaftung. Da war nämlich die Rede von einem Fluchtversuch über die bulgarischen Berge und einem tragischen Todesfall auch.
Da ließ sich mit nichts mehr ein Gedanke wegspülen: Dieser Krahlsberg könnte der Vater eines Kindes gewesen sein. Dieses Kind könnte, da außerehelich gezeugt, den Mutternamen hinter seinen Vornamen geschrieben haben. So, wie Marion es getan hatte. Und für Helder war damals kein Anlass gewesen, nach dem Namen ihres Vaters zu fragen. Aber jetzt. War Krahlsberg Marions Vater? Ist er mit ihr durch die Rhodopen gewandert? Indien vor Augen, das Taj Mahal?
Es war aber, um weiterzufragen, zu viel Trubel gewesen, dachte Helder, der inzwischen auf den Klippen einer paradiesischen Insel angelangt war. Susannes Versetzung nach Brüssel, die Ungewissheit seiner Zukunft bei der Bahn, die Halluzinationen …
Helder?! Halluzinationen? Der Lavagänger kam, und du hast ihn gesehen. Du hattest zu sehen begonnen!
Es war Zeit, die Verbotene Insel zu betreten. Höchste Zeit.
Tagelang hatte Helder verschiedene Behörden um Auskunft gebeten, hatte zwar viel freundliche Worte und einige Ratschläge bekommen, aber keinen Hinweis auf seinen Großvater gefunden. Manchmal hatte er das Gefühl, jemand beobachte ihn. Einer sieht immer zu, dachte Helder. Vielleicht sind es diesmal die Organe des Staates Hawaii.
Helder, so ohne Spur ein wenig ratlos, tat, was Hawaiiurlauber tun: am Strand liegen und Surfern zusehen, Cocktails schlürfen und sich immer wieder sagen: O Mann, ist das paradiesisch hier.
Die Reiseführer hatten Sonne versprochen, doch an diesem Abend schien die Regenmenge eines Jahres über der Insel niederzugehen. Als er das Hotel verließ, verlangte ein gut gepolstertes Seniorenpaar an der Rezeption eben nach dem Reiseveranstalter, um wegen des Wetters zu reklamieren.
Es war spätnachts, als Henri Helder pitschnass das Restaurant betrat. Elvis versprach gerade:
Dreams come true in Blue Hawaii
. Was im Hintergrund rauschte, war nicht das Meer, sondern die Tonspur des jahrzehntealten Films, der über einen mannshohen Flachbildschirm flimmerte. Die Filmfarben knallten in den Raum und konnten gut mit Helders am Nachmittag erworbenem Hemd konkurrieren, auf dessen blauem Grund sich gelbe Sittiche zwischen roten Hibiskusblüten tummelten. Da das Interieur der Bar im Stil der frühen fünfziger Jahre gehalten war, wurde der Raum zur Kulisse und der Gast zum Statisten, wenn Elvis einer blütenbestückten Schönheit im Cabrio von Liebe sang. Der grelle Sonnenschein der Pixelwelt erhellte die leeren Tische und den Chinesen hinter der Bar, der, wenn sich schimmernder Mondschein über die Szene legte, gut als Presleys Wiedergänger durchgehen konnte. Hier wurde jeder zum Elvis. Einen Moment war Helder versucht, seine über die Stirn wippende Haarsträhne zu betasten, ob sie ihm nicht zur Tolle anschwoll.
Doch dieser Rolle fühlte sich
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