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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Gepäck, seine Kleidung und seine Papiere gründlich durchsucht hatte, durfte er zur Toilette.
    Später entschuldigte sich ein gut frisierter junger Mann mit langgezogenen dünnen Ohren für die Sicherheitsmaßnahmen und reichte Helder seine Postkarte zurück. Bloß weg hier, dachte der zuerst. Doch dann besann er sich und fragte den Beamten, ob er nicht auch ihm die Karte übersetzen könne. Für einen Moment verwandelten sich die Augen des Beamten in Sehschlitze und seine Ohren in Radare, dann zuckte er die Schultern, verschwand und kam nach einer Weile mit einem Computerausdruck zurück.
     
    Mein lieber Hans Kaspar,
    gerade fuhr der Zug in Konya ein. Vielleicht ist es dieses Ortes wegen, dass ich mich entschlossen habe, auf dem Bahnhof diese Karte zu kaufen, um dir zu schreiben. In wenigen Wochen, sagt man hier, wird die Strecke fertig sein. Dann wird man bis Bagdad fahren können. Erinnerst du dich noch
an deinen Traum? Du weißt, dass auch ich nichts sehnlicher wünschte, als dort an deiner Seite aus dem Zug zu steigen. Ich werde es bald tun. Nicht allein, aber ohne Dich, ohne Ahmad, ohne Estragon, ohne meinen Vater. Alle sind sie tot. – Aber was ist mit Dir?
    Leb wohl! Deine Siyakuu
    15.06.1940
     
    Wieder Orient, die Schuhe, die Karte. War Hans Kaspar damals am falschen Ende der Welt gelandet? Denn, wie hatte er Mo gesagt, er hatte mit der Bahn nach Bagdad gewollt. Die Karte könnte ein Grund gewesen sein.
    Nun, wenn Tante Erdmuthe nicht wieder phantasiert hatte, würde Helder hier eine wertvolle Briefmarke finden. Das könnte die Familie vielleicht sogar versöhnen, wenn er etwas herausfinden sollte. Denn einen Grund musste ihr Schweigen doch haben.

XVI
    Was fehlte, war der weiße Sand. Doch sonst – die Landzunge, die sich ins schäumende Meer reckte, der alte Leuchtturm – fast wie Kap Arkona, dachte Helder an seinen ersten Ostseeurlaub und andere Missglücke seines Lebens zurück.
    Statt in Sand und Kalkstein klammerten sich hier die Gräser in dunkles, verwittertes Lavagestein, statt Möwen segelten Albatrosse und Tölpel über die Steilküste. Und die Insel, an deren Nordspitze er hockte, war nicht Rügen, sondern Kauai, das nördlichste Eiland des hawaiischen Archipels. Ununterbrochen brandete das Meer weiß aufschäumend an die mit Vogeldreck besprengten Felsen. Und über den Himmel trieb der Nordostpassat Geschwader graublauer Wolken, als wollten sie auf der benachbarten, der Verbotenen Insel landen.
    Noch etliche Stunden blieben, dann würde er den Einbeinigen treffen, um hinüberzufahren.
    Helder saß still und versuchte, die Bewegung der Insel zu fühlen. Das Eiland, wie alle seine Geschwister im Archipel, wanderte. Ein Hotspot, ein heißer Fleck im Erdmantel – klingt, als wäre da Zigarettenglut aufs Jackett gefallen –, hatte vor fünf Millionen Jahren Magma durch die Erdkruste gedrückt, erst am Meeresboden, dann über dem Wasserspiegel Lava aufgetürmt, war zu einem Kegel emporgewachsen, zu einer Insel. Die Lava war von Wind und Wasser zu Erde zerrieben worden, Pflanzen und Tiere hatten sich angesiedelt, irgendwann auch Menschen.
    Während all dies geschah, schob sich die pazifische Platte und mit ihr die Insel nach Nordwesten. Der Vulkan, seiner Magmaquelle beraubt, erlosch. Das Land erodierte weiter,wurde von Wind und Wasser ins Meer getragen. Die Insel schrumpfte, wie der Mensch mit zunehmendem Alter. Eines Tages würde auch sie unterm Meeresspiegel verschwunden sein. So wie zahllose Inseln vor ihr nur noch ein unterseeischer Berg mehr in einer langen Gebirgskette vom mütterlichen Magmaherd bis nach Kamtschatka, voll abgelagerter Erinnerungen an Pflanzen, Tiere und Menschen.
    Schneller als die Insel schrumpfte Helder in Gedanken. Er spürte das Vergehen körperlich. Nah am Verdampfen. Wir, dachte er, wandern alle auf Lava. Er versuchte, der Erdgeschichte in menschengemäßere Dimensionen zu entrinnen. Doch auch dort nahm das Vergehen kein Ende. Nirgendwo ein fester Grund unter den Füßen. Alles fließt. Alles zerfließt. Haltlos. Grundlos. Vom Sinn ganz zu schweigen.
    Die Albatrosse segelten gegen den Wind, scheinbar regungslos standen sie unter den jagenden Wolken wie unbekannte Schriftzeichen. Wie Nachrichten aus verlorenen Paradiesen, von afrikanischen Quadratmeilen und hellsandigen Ostseestränden. Wie Unterschriften unter Verträge mit dem Leben, unerfüllt, gebrochen. Von wem?
    Ziel nicht erreicht, ihr Haus- und Landesväter. Helder war nicht Entdecker der

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