Der Lavagaenger
mir? Kann gar nicht sein. Du, jetzt muss ich aber doch … Keine Pause zwischen den Sätzen, kein Platz für ein Wort Rositas.
Du, die Weiber, die quatschen dir doch’n Kind an die Hacken!
Hat er richtig gemacht. Denn das Kind, das hat ja dann jeder gesehen und weitererzählt, das hatte so Mandelaugen und Kupferhaut, Kupferhaare nicht, sondern schwarz, ganz schwarz. Sie hat ja dann auch zu dem Kind einen passenden Vater genommen, einen Vietnamesen. Na also, haben die Leute gesagt, daher …
Zwischen Rosita Episode 1 und Rosita Episode 2 hatte es Marion gegeben. Zwei Jahre nachdem Rosita ihren Himmel gezeigt hatte, war Marion von ihrer Reise zum Taj Mahal nicht zurückgekehrt.
Lange her war das alles. Brando war alt geworden. Weißes Haar scheitellos über einem gegerbten Gesicht. Er saß Helder gegenüber, legte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor. Seine Augen brannten.
Manchmal, sagte Großvater Brando, ist es gerade das, was jeder versteht und jeder entschuldigt, das wir uns selber nicht verzeihen. Eine Schuld, die wir um unserer selbst willen mit uns tragen ein Leben lang.
Helders Kopf versank beinahe zwischen den Schultern. Ihm war, als hätte dieser Großvater eben einen Blick aufsein Leben getan. Er hatte Rosita vergessen und Marion verraten. Er wusste nicht, was ihm anderes möglich gewesen wäre. War es das, wovon Großvater sprach?
Vielleicht, sprach Großvater Brando, ist es das, was fromme Menschen Sünde nennen. Und jeder, dem kein Gott verzeihen kann, der brennt für diese Sünde zu Lebzeiten schon. Der brennt in einem Feuer, das nur andere Feuer lindern können. Leidenschaften, Kriege, vielleicht auch der Gang über glühende Lava.
Nein, sagte Helder, auch Eisenbahnen lindern. Gleise wie Gitter, ein kühles Gefängnis der Nützlichkeit, ein computergesteuertes Raster sachlicher Zwänge, zwischen Abfahrt und Ankunft nur Fahrpläne, Fahrkarten, Kontrollen, mehr nicht. Eine Rüstung aus Stahl und Glas. Glänzende Lacke und umweltresistente Farben und darunter etwas Abgestorbenes, das früher einmal Leben hieß.
Sie sollten jetzt nach Hause gehen!
Großvater Brando spricht den Abspann. Ist jetzt wieder einfacher Chinese, die Drogencocktails sind ausgemixt und die Stühle schon oben …
The End.
Nein, Helder, du bist zwar von deiner Bahngesellschaft, doch noch nicht aus dieser Geschichte entlassen. Wir wollen sehen, was du damit anfängst, mit diesem gebrochenen Schweigen.
Was heißt hier, der Auftritt deines Großvaters als Brando oder umgekehrt war eine Vision, war hervorgerufen durch eine halluzinogene Droge wie Kava-Kava?
Wäre es dir lieber, die Reiseleitung hätte ihn eigens für dich inszeniert? Oh, wir wissen: die Vernunft: Mathematik plus Konvention. Aber, Helder, ist das das Leben?
Sieh hin, da fällt eben von dem Stuhl, auf dem dein Großvater saß und den der Chinese jetzt hochstellt, ein Buch. Natürlich, ein beliebiger Gast kann es vergessen haben. Aber schlag es auf!
Ein Reiseführer – deutschsprachig …
Was für ein Zufall!
Und der Besitzer hat ein Lesezeichen dort stecken lassen, dort, wo ein Kapitel über die Verbotene Insel beginnt.
Helder zahlte und hielt das Buch dem Chinesen hin. Der zuckte die Schultern.
Im Hotelbett angekommen, versuchte Helder darin zu lesen, schlief aber ein. Morgens, als er das herabgefallene Lesezeichen aufhob, sah er, es war ein Ausgabeschein der hiesigen Bibliothek. Darauf war ein Jahrgangsband des
Hawaiian Observer
von 1946 als zurückgegeben vermerkt.
Noch am selben Tag saß Helder im Lesesaal der Bibliothek, durchforstete den Band und wurde in der Ausgabe vom 23. Juli fündig. Dort wurde von drei Schiffbrüchigen berichtet, die, völlig erschöpft, von einem amerikanischen Kriegsschiff aufgegriffen worden waren. An Bord ihres merkwürdig konstruierten Wasserfahrzeugs habe sich, nach Aussage eines Matrosen, auch ein menschlicher Knochen befunden, ein halber Oberschenkelknochen soll es gewesen sein, was den Verdacht nahelege, die drei hätten in ihrer Not einen vierten Reisegefährten verspeist.
Auf dem darüber befindlichen Foto der drei vermutlichen Kannibalen erkannte Helder, abgemagert zwar, doch deutlich in seinen Gesichtszügen identifizierbar – ohne jede Ähnlichkeit mit Brando – seinen Großvater Hans Kaspar Brügg.
Was sich im Archiv des hawaiischen Justizministeriums, das Helder unmittelbar nach seiner Zeitungsrecherche aufsuchte, an Protokollen fand, händigte ihm eine blond umwölkte Dame, da die Vorgänge
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