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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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hinein vernommen, der Maßstab kann nur heißen: Respekt. Wen ich respektiere, den beute ich nicht aus. Wen ich respektiere, den schlage ich nicht. Wen ich respektiere, den schicke ich nicht in den Tod.
    Respicere speculum!, lateinerte Malinowski aus dem Stegreif, sieh dich um, und sieh, wer du bist! Erkenne dich im anderen! Das Gegenteil des europiden Narzissmus.
    Diese Doktrin, die seit Darwin, Hegel und Marx Aufstiege behauptet, ein Fortschreiten, das im Rückblick stets nach unten blickt, dient doch immer nur als Rechtfertigung für die eigene Expansion.
    Nein, meine Herren, sprach Malinowski die Vernehmer an und weckte sie vermutlich auf. So, dass der Protokollant erschreckt die Lücke seiner Mitschrift mit drei Pünktchen und der eingeklammerten Bemerkung füllte: weitere nicht zur Sache gehörende Ausführungen des Zeugen.
    Und dann weiter: Nein, meine Herren, mitnichten bin ich ein Anhänger der Rosseau’schen Richtung, die den Niedergang der menschlichen Art beklagt und den edlen Wilden als Vertreter eines Goldenen Zeitalters glorifiziert. Sicher, irgendwo existiert in jedem von uns auf den dunklen Meeren des Verlangens eine von Palmen gesäumte Südseeinsel, ein Schmachten nach Freiheit und Liebe.
    Doch eben jener unglückliche Bewohner eines solchen Eilands, wegen dem wir hier den Tag verbringen, war vonden Brüdern seiner Angebeteten derart verprügelt, ja mit dem Tod bedroht worden, dass er es vorgezogen hatte, sein paradiesisches Eiland zu verlassen.
    Sehen Sie, man muss davon loskommen, immer nur nach Gut und Böse zu suchen, denn die Probleme der Menschen gleichen sich über die Zeiten und Räume hinweg, nur ihre Mittel, diese Probleme zu lösen, sind verschieden. Wenn es für die eurasischen Völkerschaften vorteilhaft war, Gefäße aus Ton herzustellen, so war es für sie ebenso vorteilhaft, die Schalen von Kokosnüssen zu verwenden. Keramische Arbeiten auf ihren Inseln wären hier eher als Idiotie zu bezeichnen denn als kultureller Fortschritt. Was ist in welcher Situation von Vorteil, das ist die Kulturfrage. Und manchmal, wenn ich mir diesen Scherz erlauben darf, kann es auch von Vorteil sein, einen unerwünschten Liebhaber zu verprügeln – oder einen akademischen Widersacher.
    Ja, sehen Sie, und was macht dieser Zumpfhagen? Bastelt im Dienst seiner hellhäutigen Kulturbringer ein Floß zusammen, um damit den Pazifik von Ost nach West zu überqueren. Konnte ich da zusehen, musste ich nicht sofort alle Möglichkeiten ausschöpfen, um den Gegenbeweis anzutreten? Ich musste es!
    Auf die Frage nach dem menschlichen Oberschenkelknochen, so hieß es in den Akten weiter, hob der Zeuge mit dem Ausdruck der Verzweiflung die Hände, brach dann erschöpft zusammen, woraufhin ihm ein Glas Wasser verabreicht wurde.
    Da der Untersuchungsgefangene Hans Kaspar behauptete, die Schuld am Tod des Polynesiers zu tragen, ließen sich die ermüdeten Beamten das als Geständnis unterschreiben und übergaben den Fall der Justiz.
     
    Helder verließ ratlos das Justizgebäude. Auf den Stufen saß ein Einheimischer, ein weißhaariger, einbeiniger Mann, der auf Helder gewartet zu haben schien. Er wehrte HeldersAlmosen ab, als der ihn für einen Bettler hielt. Vielmehr erhob sich der Einbeinige, indem er sich mit beiden Armen von der Treppenstufe abstieß und emporschnellte, auf eine artistische Art, die allein wegen seines Alters Bewunderung verdient hätte. Als er außerdem Helder mit Namen ansprach, war dessen Erstaunen groß. Es steigerte sich ins Vollkommene, als der Einbeinige glaubhaft versicherte, jener Keola Palaoa zu sein, der angeblich vor einem halben Jahrhundert verspeist worden war.
    Dass Mo – ja, Helder: Mo, der Antiquitätenhändler aus San Francisco – ihn avisiert und beschrieben habe, verwunderte Helder nun gar nicht mehr. Vielmehr schien es ihm die einzige logische Erklärung für diese Begegnung.
    Allerdings, so der Einbeinige, handle er auch in eigenem Auftrag, denn schließlich habe er mit Hans Kaspar Brügg nicht nur Wochen auf See, sondern auch Monate in uraltem Vogeldreck verbracht.
    Der Einbeinige reichte Helder einen Zettel. Er solle sich übermorgen zum angegebenen Zeitpunkt am angegebenen Ort einfinden. Es werde dann die Überfahrt zur Verbotenen Insel vorbereitet sein. Darüber habe Helder natürlich stillzuschweigen.
    Ehe Helder sich besann und Fragen stellen konnte, war der Einbeinige, seinen Stock wie ein Sportgerät gebrauchend, davongesprungen und bald im grellen Gewimmel von

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