Der Lavendelgarten
sich irgendwo westlich von Tours, so viel wusste er, obwohl er, nachdem er unterwegs so oft auf allesamt unbequeme Transportmittel umgestiegen war, keine rechte Orientierung mehr besaß. Immerhin hatten sie es bis hierher geschafft.
Da ertönte das tiefe Brummen eines sich nähernden Flugzeugs, und der Mann, der neben Venetia gehockt hatte, hastete mit einer Taschenlampe in der Hand auf das Feld, um dem Piloten zu signalisieren, dass alles in Ordnung sei. Kurz darauf begann die Maschine den Landeanflug.
»Édouard, sieht ganz so aus, als würden Sie’s außer Landes schaffen. Schöne Grüße an merry old England , ja?«, sagte Venetia fröhlich.
»Würden Sie gern mitkommen?«, fragte Édouard.
»Wenn alles in Ordnung wäre? Natürlich.« Sie nickte. »Ich habe Mup und Pup – das sind meine Eltern – über ein Jahr nicht gesehen. Aber die Welt ist nun mal nicht in Ordnung, und ich habe hier zu tun.«
»Wie soll ich Ihnen nur danken?«, fragte Édouard, den Venetias Humor, Mut und Energie während seiner Krankheit, seiner Zeit im Keller und der gefährlichen Reise stets erstaunt und aufgemuntert hatten. »Sie werden mir fehlen.«
»Sie mir auch«, gestand sie lächelnd.
»Falls es uns beiden irgendwie gelingen sollte, diesen Krieg zu überleben, würde ich Sie sehr gern wiedersehen, Venetia.«
»Ich Sie auch.« Sie senkte verlegen den Blick.
»Venetia, ich …« Einem plötzlichen Impuls folgend küsste Édouard sie leidenschaftlich auf die Lippen.
Als das Flugzeug landete, löste sie sich aus seiner Umarmung. Édouard sah, dass in ihren Augen Tränen schimmerten. Er hob ihr Kinn ein wenig an. »Verlier nicht den Mut, mein Engel. Und pass auf dich auf, für mich.«
»Nach diesem Kuss werde ich mich noch mehr bemühen. Komm, Zeit zu gehen.«
Sie rannten über das Feld zu der Lysander, die Édouard aus seiner Heimat in die ihre bringen würde.
Bevor er in die Maschine stieg, gab er Venetia ein Päckchen. »Wenn es für dich oder ein anderes Mitglied deiner Organisation eine Möglichkeit geben sollte, das meiner Schwester im Château zu bringen, weiß sie, dass ich in Sicherheit bin.«
»Ich sorge dafür, dass sie es erhält«, versprach Venetia und steckte das Päckchen in ihren Ranzen.
Auf den Stufen zum Flugzeug wandte Édouard sich noch einmal um. »Viel Glück, mein Engel. Ich bete, dass wir uns bald wiedersehen.«
Dann verschwand er in der Maschine. Venetia verfolgte, wie sie sich in die Luft erhob.
»Komm, Claudette, wir müssen hier weg«, sagte ihr Begleiter Tony, packte sie am Arm und zog sie über das Feld.
Venetia blickte wehmütig zum Nachthimmel hinauf. Als der Vollmond das mit Frost überzogene Feld in ein weißes, glitzerndes Märchenland verwandelte, wusste Venetia, dass Édouard de la Martinières der erste Mann war, den sie tatsächlich lieben konnte.
Am folgenden Tag fuhr Venetia, nachdem sie Édouards Päckchen einem Kurier anvertraut hatte, der nach Süden wollte, mit dem Zug zurück nach Paris. Dort angekommen ließ sie in ihrem neuen Safe House erleichtert ihren Ranzen auf den Boden fallen und ging in die Küche, um sich einen Tee zu kochen.
»Guten Abend, Fräulein. Ich freue mich, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Als Venetia sich umwandte, blickte sie in die eisblauen Augen von Oberst Falk von Wehndorf.
Eine Woche später wurde Venetia, nachdem man sie im Gestapo-Hauptquartier befragt und brutal gefoltert hatte, weil sie die gewünschten Informationen nicht preisgeben wollte, hinaus in den Hof geführt.
Der Offizier fesselte sie mit einem verächtlichen Blick an einen Pfosten.
»Nun gib ’nem Mädel schon ’ne letzte Zigarette«, bat sie ihn mit einem schiefen Grinsen.
Er zündete eine Zigarette an und steckte sie ihr in den Mund. Während sie daran zog, dachte sie an ihre Familie jenseits des Kanals.
Und als der Offizier auf sie anlegte, galt Venetias letzter Gedanke dem Kuss von Édouard de la Martinières.
25
Gassin, Südfrankreich, 1999
Jacques’ Gesicht war vor Anstrengung grau.
»Genug, Papa. Du musst dich ausruhen«, sagte Jean. »Ich bring dich nach oben.«
»Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende …«
»Schluss, Papa«, beharrte Jean, half Jacques aus dem Sessel und führte ihn zur Tür. »Du kannst morgen weitererzählen.«
Emilie blieb sitzen, starrte ins Feuer und dachte an Venetia, die in ihrem Vater nur wenige Tage vor ihrem Tod möglicherweise die Liebe ihres Lebens gefunden hatte.
Als Jean wiederkam, setzte er sich Emilie
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