Der Lavendelgarten
Emilie.«
Emilie starrte nachdenklich ins Feuer, während Jean seinen Vater nach oben brachte.
»Wie fühlen Sie sich?«, erkundigte sich Jean, als er zu ihr zurückkam.
»Eine schreckliche Geschichte, die viel Stoff zum Nachdenken bietet.«
»Ja. Schwer zu glauben, dass das alles erst fünfundfünfzig Jahre her ist«, seufzte Jean.
»Ihr Vater weiß, wo sich das Kind von Sophia und Frederik befindet, Jean, da bin ich mir sicher«, erklärte Emilie.
»Mag sein. Aber wenn, hat er seine Gründe, warum er es Ihnen nicht verraten möchte. Und die müssen Sie respektieren.«
»Gut. Vorbei ist vorbei. Wollen wir hoffen, dass wir etwas aus der Vergangenheit gelernt haben. Die Welt dreht sich weiter.«
»Stimmt, aber für die Kriegsgeneration meines Vaters ist es nicht so leicht. Wir können die Geschehnisse damals logisch analysieren, doch die, die sie selbst erlebt haben, sind nicht in der Lage, sie so emotionslos und distanziert zu betrachten.« Jean tätschelte Emilies Hand. »Ich glaube, es wird auch für uns Zeit, ins Bett zu gehen.«
Zu ihrer eigenen Überraschung schlief Emilie sofort ein. Allerdings wachte sie am folgenden Morgen früh auf. Sie zog sich an und schlenderte hinüber zum Château, um noch einmal die Ruhe dort zu genießen, bevor die Bauarbeiter eintrafen. Emilie öffnete die Tür zu dem ummauerten Garten und ging zu dem kleinen Holzkreuz, das Frederik nach dem Krieg für seinen Zwillingsbruder Falk errichtet und das sie immer für das Grab eines Haustiers gehalten hatte. Bei dem Gedanken, dass unter ihr Falks Knochen ruhten, bekam sie eine Gänsehaut. Wie hatte es an einem so schönen Ort nur so viel Hass und Gewalt geben können?
Wenn nur Sebastian und Alex die Geschichte ihrer mutigen Großmutter gehört hätten, die für ihre Taten kein Lob erhalten und nicht einmal ihrer Familie davon erzählt hatte! Sie war eine bemerkenswerte Frau gewesen und dennoch wie so viele in dieser Zeit unbeachtet geblieben. Doch von ihren Enkeln war der eine von Neid auf den anderen zerfressen … Erst im Wissen um die Vergangenheit begann Emilie die Ironie der Situation zu begreifen. Bestimmt war sie auch Constance nicht entgangen.
Emilie hatte als Einzelkind keine Erfahrung mit Geschwisterrivalität. Aber Jacques’ Ausführungen hatten ihr vor Augen geführt, welche Macht sie besitzen konnte.
Als Emilie den ummauerten Garten verließ, musste sie an den schrecklichen Keller denken, den sie und Sebastian an jenem ersten Nachmittag entdeckt hatten. Dort hatte Sophia praktisch als Gefangene gelebt und ein Kind zur Welt gebracht, und am Ende war sie auch da gestorben. Wieder einmal wurde Emilie bewusst, wie glücklich sie sich schätzen konnte.
Auf der Auffahrt des Châteaus kam ihr Anton, der Sohn von Margaux, auf dem Fahrrad entgegen. Er begrüßte sie mit einem schüchternen Lächeln.
»Wie geht’s, Anton?«, fragte sie ihn.
»Gut, danke, Madame. Maman sagt, ich soll Ihnen das zurückbringen.« Anton zog ein Buch aus seinem Korb. »Danke, dass Sie es mir geliehen haben. Es hat mir sehr gut gefallen.«
»Erstaunlich, dass du es so schnell gelesen hast. Ich habe Monate dazu gebraucht«, gestand sie.
»Ich lese sehr schnell, manchmal bis tief in die Nacht. Ich liebe Bücher.« Er zuckte mit den Achseln. »Leider habe ich in der Leihbücherei schon fast alles halbwegs Interessante durch.«
»Dann musst du, wenn die Bibliothek wieder eingeräumt ist, kommen und dir etwas ausleihen. Hier wird dir der Lesestoff wahrscheinlich nie ausgehen.«
»Danke, Madame.«
»Wie geht es deiner Mutter?«, erkundigte sich Emilie.
»Ich soll Ihnen Grüße ausrichten. Sie möchten sie anrufen, wenn Sie irgendetwas brauchen. Ich glaube, sie wird froh sein, wenn alles wieder beim Alten ist.«
»Das geht uns allen so. Auf Wiedersehen, Anton.«
»Auf Wiedersehen, Madame Emilie.«
Emilie brühte sich bei Jean und Jacques einen Kaffee auf und ging dann hinüber zur cave , wo Jacques wie üblich Flaschen einwickelte, während Jean am Tisch Papierkram erledigte. Weil sie die beiden nicht stören wollte, trat sie mit dem Kaffee hinaus in den Garten. Die Frage, wo Victoria am Ende gelandet war, interessierte sie brennend. Und von Frederik, dem Vater des Kindes und Geliebten Sophias, hatte Jacques behauptet, dass er noch lebe …
In ihrem Kopf formte sich eine Idee heraus, die sie Jean und Jacques beim Mittagessen unterbreitete.
»Warum nicht?«, meinte Jean. »Papa, was hältst du davon, wenn Emilie zu Frederik in die Schweiz
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