Der Lavendelgarten
Papa?«
»Ja.«
»Die Mutter des Kindes war zwar eine de la Martinières«, führte Jean den Gedanken fort, »Victoria jedoch unehelich. Somit hat sie keinerlei Anspruch auf das Anwesen.«
»Das interessiert mich nicht«, versicherte Emilie. »Mir wäre nur wichtig zu wissen, ob ich noch Verwandte habe, in deren Adern das Blut der de la Martinières fließt. Möglicherweise hat Victoria Kinder … Gott, wie viele Fragen sich daraus ergeben. Jacques, bitte beantworten Sie mir Folgendes: Hat Frederik sein Versprechen gehalten und noch einmal versucht, Sophia zu sehen?«
»Ja. Ein Jahr nach Kriegsende ist er hier bei mir aufgetaucht. Ich musste ihm mitteilen, dass Sophia nicht mehr lebt.«
»Haben Sie Frederik gesagt, dass er eine Tochter hat?«
Jacques schüttelte den Kopf und hob zitternd die Hand an die Stirn. »Ich wusste nicht, wie ich ihm das erklären soll. Also habe ich ihm erzählt, dass das Kind ebenfalls gestorben sei. Ich hatte das Gefühl, dass das das Beste für alle Beteiligten ist«, gestand er mit leiser Stimme.
»Papa, bestimmt war das richtig«, tröstete Jean ihn. »Wenn Frederik Sophia tatsächlich so sehr liebte, wie du behauptest, hätte er sicher nichts unversucht gelassen, ihr Kind aufzuspüren. Und wenn Victoria sich bereits in eine Familie eingelebt hatte, die nichts von ihrem Nazivater wusste, war es so für sie besser.«
»Ich musste die Kleine schützen …« Jacques bekreuzigte sich. »Gott möge mir die schreckliche Lüge vergeben. Frederik war am Boden zerstört.«
»Das kann ich mir vorstellen«, bemerkte Jean.
»Jacques, wo ist Sophia begraben?«, erkundigte sich Emilie.
»Auf dem Friedhof von Gassin. Sie hat erst nach Kriegsende einen Grabstein bekommen, weil wir keine Aufmerksamkeit erregen wollten. Selbst noch im Tod mussten wir Sophia verbergen.«
»Weißt du, wo Frederik ist, Papa?«, fragte Jean. »Wenn er noch am Leben ist, muss er inzwischen über achtzig sein.«
»Er lebt unter neuem Namen in der Schweiz. Als er schließlich nach Hause zurückkehrte, war sein Besitz an die Polen gegangen, weil Ostpreußen inzwischen unter polnischer Verwaltung stand. Die Russen hatten seine Eltern erschossen. Wie so viele musste auch er nach dem Krieg ganz von vorn anfangen. Später habe ich erfahren, dass Frederik vor Kriegsbeginn zahlreichen Menschen zur Flucht verholfen hatte. Viele von ihnen wollten sich für seine Unterstützung revanchieren. Sie haben ihm geholfen, ein neues Leben aufzubauen.« Jacques schmunzelte. »Wisst ihr was? Am Ende ist er Uhrmacher in Basel geworden. Und in seiner Freizeit Laienprediger. Aus seinen Briefen habe ich viel über das Vergeben gelernt, und ich bin stolz, ihn als meinen Freund bezeichnen zu können. Ich habe Édouard oft gesagt, er soll Kontakt zu Frederik aufnehmen. Sie waren sich nicht unähnlich und haben in einer furchtbaren Zeit das getan, was in Ihrer Macht stand. Ich dachte, sie könnten sich gegenseitig über den Verlust der Frau hinwegtrösten, die sie beide geliebt hatten. Aber das schien leider nicht möglich zu sein.«
»Hörst du noch von Frederik?«, wollte Jean wissen.
»Ja, er schreibt manchmal, aber ich habe seit über einem Jahr keine Nachricht von ihm. Vielleicht ist er krank. Wie ich …« Jacques zuckte mit den Achseln. »Er hat nie geheiratet. Sophia war die Liebe seines Lebens. Für ihn gab es keine andere.«
»Und mein Vater …« Für Emilie war dies der schmerzlichste Teil der Geschichte. »Ich kann es fast nicht glauben, dass er das Kind seiner Schwester im Stich gelassen hat. Er war so ein herzensguter Mensch.«
»Ja, das stimmt, aber er hatte seine Schwester ihr ganzes Leben lang vergöttert und von der Außenwelt abgeschottet. Der Gedanke, dass sie ihre Unschuld an einen anderen Mann, noch dazu an einen deutschen Offizier, verloren hatte, war zu viel für ihn. Er konnte es nicht ertragen, durch die Frucht dieser Liaison tagtäglich daran erinnert zu werden, musste er doch das Gefühl haben, sie nicht genug beschützt zu haben. Sie dürfen ihm keine Vorwürfe machen, Emilie. Sie können nicht nachvollziehen, wie das damals war …«
»Papa«, sagte Jean, als er das müde Gesicht seines Vaters sah. »Ich glaube, für heute ist es genug. Emilie kann morgen früh weiterfragen. Komm.« Er hielt Jacques den Arm hin.
»Édouard hat alles für sein Land gegeben«, erklärte Jacques beim Aufstehen. »Er war durch und durch Franzose. Sie können stolz auf ihn sein. Doch der Krieg hat uns alle verändert,
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