Der Lavendelgarten
Version.« Alex gab sie Emilie. »Die Gedichte lesen sich, als wären sie von einem fünfjährigen Kind geschrieben, und manche sind tatsächlich entstanden, als die Verfasserin noch sehr jung war. Ihre späteren Themen besitzen allerdings Potenzial. Sehen Sie den Namen darunter?«
»Sophia le la Martinières!«, rief Emilie verblüfft aus. »Woher haben Sie dieses Notizbuch?«
»Seb hat vor ein paar Wochen ein Buch aus einem Regal der Bibliothek gezogen, irgendetwas über französische Obstsorten, wenn ich mich recht entsinne. Er sagt, dieses Notizbuch sei dabei gewesen. Er hat mir die Gedichte zum Lesen und Entziffern gegeben. Wissen Sie, wer Sophia de la Martinières war?«
»Ja, meine Tante, die Schwester meines Vaters. Er hat nicht oft von ihr gesprochen, aber ich habe bei meinem letzten Frankreichaufenthalt die Anfänge ihrer Geschichte gehört. Sie war blind.«
»Das erklärt die grässliche Schrift.«
»Sie sagen, Sebastian hätte das Heft bei einem Buch über französische Obstsorten gefunden?«
»Ja, behauptet er zumindest.«
»Jacques, der mir von Ihrer Großmutter und Sophia während des Kriegs erzählt hat, sagt, Constance hätte ein Buch zu Hilfe genommen, um Sophia Früchte zu beschreiben. Und Sophia hätte Gedichte verfasst. Vielleicht hat Constance beide Bücher nach dem Krieg nach England mitgenommen.«
»Was für eine rührende Geschichte«, bemerkte Alex.
»Ja. Wissen Sie, wo das Buch über die Obstsorten ist? Ich würde es mir gern anschauen.«
»Ich habe es nicht mehr zu Gesicht bekommen, seit Seb es aus dem Regal in der Bibliothek genommen hat«, antwortete Alex, plötzlich zurückhaltend. »Leider bin ich nicht in der Lage, die oberen Fächer zu überprüfen, also könnte es dort sein.«
»Ich sehe nach, und wenn ich es nicht finde, frage ich Sebastian danach, sobald er wieder da ist.« Emilie wandte sich den Gedichten zu. »Sie gefallen mir. Unter dieses hat Sophia ihr Alter geschrieben.« Emilie deutete auf die Signatur und die Neun dahinter. »Sie beschreibt darin, was sie gern sehen würde.« Emilie schüttelte traurig den Kopf.
»Dieses mag ich besonders.« Alex suchte es heraus. »›Das Licht hinter dem Fenster‹. Em, was wissen Sie über die Zeit, die meine Großmutter in Frankreich verbracht hat? Das würde mich sehr interessieren.«
Während Emilie Risotto kochte, schilderte sie ihm, was Jacques ihr über Constance erzählt hatte. Alex lauschte aufmerksam.
»So weit kenne ich die Geschichte bis jetzt«, erklärte sie, als sie das Risotto servierte. »Was für ein Zufall, dass Ihre Familie und meine so viele Jahre später wieder verbunden sind.«
»Ja«, pflichtete Alex ihr bei und griff zur Gabel. »Wirklich erstaunlich.«
Emilie, die den leisen Spott in seiner Stimme bemerkte, sah ihn fragend an. »Wie meinen Sie das? Falls Sie glauben, dass Sebastian meine Familie bewusst ausfindig gemacht hat, irren Sie sich. Wir haben uns rein zufällig in Gassin getroffen, als er geschäftlich im Var war. Er hat mich aus der Zeitung erkannt und mir bei unserer ersten Begegnung von der Verbindung unserer Familien erzählt.«
»Dann gibt es da also kein Problem.«
»Nein«, antwortete Emilie mit fester Stimme.
»Gut, wenden wir uns anderen Themen zu«, schlug Alex vor.
Der Rest des Abends gestaltete sich längst nicht so locker wie der zuvor, weil eine gewisse Spannung in der Luft lag. Nach dem Essen kehrte Alex in seinen eigenen Bereich zurück, und Emilie ging mit einer Tasse Kakao nach oben.
Es bestand kein Grund, an der Lauterkeit ihres Mannes zu zweifeln, dachte Emilie, als sie sich mit dem Kakao ins Bett setzte. Egal, wie sie sich begegnet waren, am Ende hatten sie sich ineinander verliebt und geheiratet.
Beim Lesen von Sophias Gedichten fragte sie sich wieder einmal, warum ihr Vater niemals über seine jüngere Schwester gesprochen hatte. Dass sie überhaupt existierte, hatte sie als Kind eher zufällig herausgefunden, weil ihr an der Wand des Pariser Arbeitszimmers ihres Vaters das Bild einer schönen jungen Frau mit bis über die Schulter reichenden blonden Haaren, türkisfarbenen Augen und einer Perserkatze auf dem Schoß aufgefallen war.
»Wer ist das, Papa?«, hatte sie gefragt.
Langes Schweigen. »Das war meine Schwester, deine Tante Sophia, Emilie«, hatte Édouard schließlich geantwortet.
»Sie ist wunderschön.«
»Ja, das war sie.«
»Sie ist tot?«
»Ja.«
»Wie ist sie gestorben, Papa?«
»Darüber möchte ich nicht sprechen, Emilie.«
Emilie
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