Der Leibarzt der Zarin
nicht eher ruhen, bis alle, für die sie bestimmt sind, darin liegen! Morgen will ich die Särge sehen. Auf der Roten Treppe sollen sie stehen!«
Die Rote Treppe zur Granowitaja Palata war die Freitreppe des Zarenpalastes. Iwan schritt sie immer hinunter, wenn er zu einer der Kirchen hinüberging, um die Messe, den Chor der Mönche zu hören und sich von dem Metropoliten segnen zu lassen. Am Fuß dieser Roten Treppe müßte ein Meer von Blut liegen, wenn man es nicht immer weggewischt hätte.
Der Hofmarschall übernahm es, für die vier Särge zu sorgen. Die Minister verschwanden so schnell wie Schatten in der Sonne. Sie waren froh, einen so gnädigen Zaren gefunden zu haben, und nutzen seine Stimmung aus, sich eiligst aus seinem Blick zu entfernen. Man kannte Iwan zu gut …
»Ich bin müde«, sagte Marja in ihrem Zimmer. »Der lange Ritt, deine Leidenschaft – ich fühle meinen Körper nicht mehr. Und ein Schmerz ist in meinem Kopf, tief drinnen … Sieh nur, Iwanuschka, die Augen tränen mir.«
Es gelang ihr wirklich, Tränen herauszupressen. Der Zar betrachtete sie, wischte die Tränen mit dem Handrücken weg und trug Marja wie ein Kind zu Bett.
»Ruf den Arzt«, bat sie.
Iwan blieb stehen. Das alte Mißtrauen quoll wieder in ihm hoch. Was ist das? dachte er. Kaum sind wir wieder in Moskau, jammert sie nach diesem blonden deutschen Kerl! Ihr Kopf schmerzt? Es gibt ein gutes Mittel, das dagegen hilft, und man braucht keinen Arzt dazu: Man schlägt den Kopf einfach ab. Aber sie hat einen schönen Kopf – und was ist der wundervollste Körper ohne ihn?
Er beugte sich über Marja, riß ihr das Kleid über der Brust auf, zerrte es herunter, und als die Zarin nackt vor ihm lag, rannte Iwan zur Tür und schrie in den Vorraum hinaus:
»Der Arzt soll kommen!«
Er sah sich um. Marja lag regungslos auf dem Bett, beide Hände um den Kopf gelegt, als könne sie die Schmerzen kaum noch ertragen.
»Der Arzt, der Henker und der Leichensalber sind die einzigen Menschen auf der Welt, die außer dem Zaren die Zarin nackt sehen können«, sagte Iwan langsam. »Drei Männer, die noch nie alt geworden sind. Wie alt ist Trottau?«
»Ich weiß es nicht, Iwan!« Marja krümmte sich. Sie spielte die Schmerzen gut, aber in Wahrheit verging sie in Leidenschaft nach Trottaus Händen. Schon sein Anblick genügte ihr jetzt, um glücklich zu sein. »Was interessiert er mich? Er ist ein Wesen – weiter nichts.«
Trottau betrat das Schlafzimmer der Zarin mit einer tiefen Verbeugung. Mit einem Blick übersah er die Lage. Der Zar stand zwischen ihm und Marja – ein Bollwerk aus Macht und Mißtrauen. Iwan trug einen goldbestickten Kaftan, den ein mit Edelsteinen besetzter Gürtel zusammenhielt. Daran hing an zwei goldenen Ketten ein gebogener Dolch in einer mit Diamanten besetzten goldgehämmerten Scheide. Auf dem Kopf trug der Zar seine spitze Mütze, deren Rand ein Diadem aus bunten Steinen und mattglänzenden Perlen einrahmte. Er hielt den Possoch in der Hand, der zum Zeichen seiner unumschränkten Macht geworden war. Die lange, stählerne Spitze des Hirtenstabs schabte über den dicken Teppich.
Auf dem Bett hob Marja vorsichtig den Kopf. Iwan konnte es nicht sehen, denn er blickte Trottau an. Und er bemerkte auch nicht, wie Marja dem Arzt zulächelte und die Lippen spitzte, als küsse sie ihn.
»Gott segne den erhabenen Herrscher und die erhabene Zarin«, sagte Trottau. »Ich habe den Bären gesehen, den der Herrscher gestochen hat. Es gibt keinen zweiten solchen Bären.«
Iwan war verwirrt. Diese Sätze entwaffneten ihn. »Die Zarin ist krank«, entgegnete er deshalb knapp. »Der Kopf … Mach sie gesund. Und erkläre mir, was es für eine Krankheit ist.«
Trottau verneigte sich erneut. Während der Zar in der Mitte des Zimmers stehenblieb, stieg er die drei Stufen zum Bett empor, und beugte sich tief über Marja. Ihre Augen leuchteten. »Ich liebe dich …« flüsterte sie leise.
Der Zar konnte es nicht hören. Er ging vor dem Bett unruhig auf und ab. »Was fehlt ihr, Arzt?« rief er, nachdem Trottau eine Weile Marjas Kopf hin- und hergedreht, beklopft und gedrückt hatte und ihm der Angstschweiß ausbrach, daß der Zar die zärtlichen Namen hören könnte, die sie ihm unentwegt zuflüsterte.
»Das lange Reiten«, antwortete Trottau. »Die Zarin ist es nicht gewöhnt. Die Nerven im Kopf sind zu sehr erschüttert worden.«
»Was kann man dagegen tun?«
»Ich werde der erhabenen Zarin ein Pulver geben, das sie beruhigt
Weitere Kostenlose Bücher