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Der Leibarzt der Zarin

Der Leibarzt der Zarin

Titel: Der Leibarzt der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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fiel breit bis zum Gürtel seiner bestickten Kutte hinab. »Kommt der Zar wieder?« fragte er Trottau.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Das Volk ist ratlos, die Bojaren sind verstört … Alle Kirchen sind voll von Betenden, und die Kaufleute wollen eine Abordnung zum Zaren schicken und um seine Rückkehr bitten. Die Unsicherheit frißt uns auf. Das Reich bricht auseinander.«
    Trottau hörte, wie sich der tappende Schritt von Rußlands höchstem Priester in den weiten Gängen verlor. Ein alter Mann, der die Welt nicht mehr verstand …
    Am Nachmittag besorgte sich Trottau einen Schlitten, bis zum Rand gefüllt mit warmem Stroh, und gab dem Kutscher fünf Rubel. Das war ein so fürstliches Geschenk, daß der Mann auf die Knie fiel und Trottaus Mantelsaum küßte.
    Trottau befahl ihm, noch Felldecken zu besorgen und dann am Nordtor des Kremls zu warten. Danach begab er sich zu Xenia, Massja und Blattjew in ihrem unterirdischen Labyrinth und sagte: »Wann habt Ihr Moskau zum letztenmal gesehen? Ich zeige es euch.«
    Massja sträubte sich mit Händen und Füßen. »Man wird uns umbringen!« schrie sie. »Wir dürfen nicht die Bären verlassen! Diese Welt da oben geht uns nichts mehr an. Nein, vielleicht kommt plötzlich der Zar und findet niemanden bei seinen Bären!«
    »Der Zar ist weit. In drei Stunden sind wir zurück, Massja«, beruhigte Trottau sie.
    »Drei Stunden! Jemandem die Augen ausstechen, das dauert drei Sekunden. Und man wird sie uns ausstechen, wenn wir uns die Welt dort oben ansehen!«
    Blattjew grunzte und lallte. Er rannte herum, zog seine dicken, geflochtenen Strohstiefel aus und gute, mit Fell gefütterte Lederstiefel an, hing sich einen Mantel aus Wolfspelz um die Schultern und begann, mit gespreizten Fingern seinen Bart zu kämmen.
    Auch Xenia erschien in einem Fellmantel. Sie hatte die blonden Haare zu dicken Zöpfen geflochten und rund um den schmalen Kopf gewunden. Wie eine Krone sah es aus, und ihre blauen Augen strahlten im Fackelschein.
    »Draußen schneit es, die Welt ist weiß und still. Er ist etwas Wunderbares, der Schnee, Mamuschka …«
    Vor einigen Tagen hatte Xenia zum erstenmal in ihrem Leben Schnee gesehen. Trottau hatte sie in Felle gehüllt und in den Garten gebracht. Die Sonne war durch die Wolken gebrochen, und die Schneekristalle hatten bläulich geglitzert.
    Am nächsten Tag, als es wieder schneite, hatte Xenia die Schneeflocken mit beiden Händen aufgefangen und geküßt.
    »Es ist so schön, zu leben«, hatte sie zu Trottau gesagt. »O Andrej, ich möchte nie sterben …«
    Und er hatte geantwortet: »Du wirst leben wie jeder andere Mensch, Xenia. Im nächsten Sommer haben wir den Tod besiegt.«
    Es war keine fromme Lüge. Wenn Trottau Xenia abhörte, war das Rasseln in ihren Lungen nur noch schwach. Xenia konnte tief durchatmen, ohne ein einziges Mal zu husten, und nach einer Stunde Sonne oder Schneekühle war ihr blasses Gesicht gerötet.
    Sie blüht auf, dachte Trottau ergriffen. Wirklich, ein Mensch kann aufblühen wie eine Blume.
    Er wußte, daß er ein Wunder erlebte – ein Wunder, das vielleicht nur die Liebe zuwege gebracht hatte …
    Sie fuhren durch Moskau, ganz langsam, mit klingenden Glöckchen am Geschirr der Troika, in das wärmende Stroh gewühlt und mit Fellen zugedeckt.
    Niemand beachtete sie. Die Schlitten, die ihnen begegneten, hatten es eilig, ins Warme zu kommen, die Menschen auf den Straßen noch mehr.
    Für die Blattjews aber war es eine Fahrt von Wunder zu Wunder.
    »So viele neue, große Häuser!« stammelte Massja. »Und wie reich sie geschnitzt sind und wie bunt bemalt! Igor Igorowitsch, damals, vor zwanzig Jahren, gab es hier nur elende Hütten. Sieh nur, die Häuser haben rote Schindeldächer – das konnten sich früher nur die Bojaren leisten. Oh, ist die Welt reich geworden!«
    Blattjew saß im Stroh, in seinem Bart hingen Schnee und Eiszapfen, sein Atem gefror zu kleinen Kristallen. Er grunzte und lallte in einem fort, und später, als sie durch schöne, breite, neue Straßen fuhren und die Pferdchen wieherten, fühlte er sich wieder so wie in seiner Jugend, und er begann zu weinen.
    Nach drei Stunden kamen sie zum Kreml zurück. Als die Türme auftauchten, der dunkle Palast, das Kloster, die hohe Mauer, krochen die Blattjews in sich zusammen. Die Wunder verwehten hinter ihnen im aufstiebenden Schnee.
    Nur noch ein paar Minuten, und die schreckliche Unterwelt mit ihren tropfenden Felsgängen und dem Gestank der Bären war wieder um sie. Eine

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