Der Leichenkeller
ungleich verteilt, aber Mercer und ich sind daran gewöhnt.« Ich stand auf, um Paige bis zum Beginn der Verhandlung nach nebenan in das Besprechungszimmer zu bringen.
»Alex, noch eine Frage. Was ist mit meiner sexuellen Vergangenheit? Ich meine, kann Mr. Robelon Fragen stellen über andere Männer, mit denen ich geschlafen habe?« Sie wurde tiefrot im Gesicht.
Auch darüber hatten wir bereits gesprochen. »Ich dachte, ich hätte es Ihnen erklärt.« Ich setzte mich wieder, damit ich mit Paige auf gleicher Augenhöhe war. »Deshalb habe ich Ihnen ja so zugesetzt, was genau bei den Treffen zwischen Ihnen und Andrew vorgefallen ist.«
Wie alle meine Zeuginnen hatte ich sie gnadenlos ausgequetscht, ob es vor der Vergewaltigung zu einem Annäherungsversuch oder sexuellen Vorspiel gekommen war. Viele Frauen verschwiegen oder bagatellisierten diese Fakten, aus Angst, dass ein Strafverfolger den Fall nicht ernsthaft in Erwägung ziehen würde, falls vor dem Verbrechen in irgendeiner Form Interesse oder Einwilligung signalisiert worden war.
»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, Alex.«
»Warum machen Sie sich dann jetzt Sorgen? Alles andere ist irrelevant.«
»Ich war letzte Nacht im Internet«, sagte sie und zerknüllte ihr Taschentuch in der Hand. »Ich habe Artikel zu Präzedenzfällen gesucht, um zu sehen, worauf ich mich einstellen müsste.«
Offenbar hatte nichts, was ich ihr gesagt hatte, ausgereicht, um sie zu beruhigen.
»Ich fand einen langen Artikel in der Times vom letzten Jahr, in dem Sie mit der Aussage zitiert werden, wie schlimm die Gesetze früher waren. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen.«
»Das ist ein alter Hut, Paige. Das hat sich alles geändert.« Jeder amerikanische Bundesstaat hatte in den letzten fünfundzwanzig, dreißig Jahren Opferschutzgesetze erlassen, die die Vergewaltigungsopfer vor Fragen über sexuelle Aktivitäten mit anderen Männern schützten. Vorher war man davon ausgegangen, dass eine Frau, die jemals vor der Vergewaltigung Sex gehabt hatte – sprich: »unkeusch« gewesen war –, in den Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten eingewilligt hatte. Laut damaliger Definition war das ideale Opfer eine »Jungfrau von unbefleckter Reinheit«.
»Aber diesen Fall, den Sie in dem Artikel anführen?«, hakte sie nach.
»Das war noch vor meinem Jurastudium. Das ist Vergangenheit, Paige.«
Als ich den Fall studiert hatte, war ich erstaunt und empört gewesen, dass noch zu meinen Lebzeiten ein Gericht eine Vergewaltigungsklage verworfen hatte, weil die Klägerin keine Jungfrau mehr gewesen war. Mit blumiger Rhetorik und Anspielungen auf die römische Geschichte hatte das Gericht gefragt: »Wird man bei der geübten Messalina, in losem Gewande, nicht eher auf Einwilligung schließen als bei der zurückhaltenden und tugendhaften Lukrezia?« Die untreue Ehefrau des Claudius eignete sich nach Ansicht des Gerichts nicht als Opfer – im Gegensatz zu der tugendhaften Lukrezia, die sich umgebracht hatte, anstatt ihren Vergewaltiger vor Gericht zu zerren.
»Es müsste von unmittelbarer Relevanz für diesen Fall sein«, sagte ich zu Paige. »Man kann nicht mehr einfach so in Ihrem Privatleben herumstochern.«
»Kommen Sie, Paige«, sagte Mercer und geleitete sie hinaus. »Alex wird jedem, der Ihnen so zu kommen versucht, die Gurgel umdrehen. Machen Sie sich keine Sorgen.«
An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Da ist noch etwas, das ich Ihnen sagen muss, Alex.«
Ich umklammerte das Papierbündel in meiner Hand. In knapp einer Stunde würde ich mich an die Geschworenen wenden. Falls Paige mich in irgendeiner Weise belogen hatte, war das meine letzte Chance, es herauszufinden.
»Ich erhielt letzte Nacht einen Anruf von einem Mann, mit dem ich, äh, mit dem ich einmal zusammen war.«
»Sexuell?«, fragte Mercer. Wir hatten keine Zeit, um den heißen Brei herumzureden.
»Zuerst nur freundschaftlich. Dann, ja, dann auch sexuell.«
Ich stand auf. »Hat das irgendetwas mit Andrew Tripping zu tun? Mit diesem Prozess?«
»Vielleicht.« Paige zögerte und zerbiss sich förmlich die Lippen. »Er rief mich an, um mich zu überreden, heute nicht auszusagen.«
»Jemand hat Ihnen gedroht?«, fragte ich, während Mercer gleichzeitig den Namen des Mannes wissen wollte.
Sie blickte von einem zum anderen. »Ich würde es nicht direkt eine Drohung nennen. Aber es scheint so, als habe er gestern mit Andrew gesprochen. Er war sogar im Gerichtssaal, um sich mit ihm zu treffen.«
Ich
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