Der letzte Agent
Ich verabredete mit Vera und Jürgen, dass wir sofort alle verräterischen Unterlagen verbrennen.« Er zuckte mit den Achseln. »Auf eine gewisse Weise ist es lächerlich, weil wir sämtliche Einzelheiten bis hin zu ganzen Versuchsreihen neuer Projekte im Kopf haben. Wir lernten das Zeug systematisch auswendig. Wir machten aus, dass wir jede Tätigkeit einstellen, bei jedem Kontakt toter Mann spielen. Jeder konnte frei entscheiden, das zu tun, was er wollte. Vera und Jürgen entschlossen sich, zu bleiben und aufmerksam zu sein. Ich sagte, ich tauche unter. Ich tauchte unter.«
»Warum denn ausgerechnet vor der Haustür von Clara?«, fragte ich.
»Das ist einfach zu begründen«, sagte er. »Clara ist die beste Sekretärin, die man sich vorstellen kann … Eine, die absolut keine Ahnung hat.« Clara weinte wieder. »Mach dir nichts draus, Clara-Mädchen. Also, sie war die beste Sekretärin, die man sich vorstellen kann. Ich versteckte mich in ihrer unmittelbaren Nähe. War sie in der Ferienwohnung in Ahrdorf, war alles okay, und ich konnte jederzeit zu ihr. War sie aber dort nicht, war es eigentlich noch besser. Die Wohnung liegt abseits, sie ist nicht kontrollierbar vom Vermieter, und man kann außergewöhnlich einfach und leicht durch einen alten Stall hineingelangen. Man kann also telefonieren, ohne dass irgendjemand nachprüfen kann, wo man steckt. Und ich bin zugleich ständig in der Nähe der Wohnung in Mirbach.«
»Genial«, murmelte ich. »So etwas in der Art habe ich erwartet. Wieso kam denn Sahmer von einer Minute zur anderen auf die Idee, Clara zu besuchen? Ohne Auto, irgendwie.«
»Ich vermute, er kam mit einem Taxi«, sagte er. »Wir hatten ausgemacht, dass jeder von uns ständig zweitausend Mark bei sich hat, um bei Fluchtbewegungen unabhängig zu sein. Aber mir ist unbekannt, weshalb er plötzlich flüchtete und dann in Ahrdorf erschossen wurde. Ich weiß es nicht. Und Vera weiß es auch nicht. Denn ich habe sie sofort angerufen.«
»Wo war Vera?«
»Als ich das erste Mal anrief, bei sich zu Hause. Später, am nächsten Tag dann in der Firma.«
»Was vermuten Sie?«, fragte ich.
»Ich kann nur vermuten, dass irgendetwas ihm panische Angst machte. Und er hatte dieselbe Idee wie ich. Er wusste: Clara richtet alles. Und sie hat mit all dem nichts zu tun. Also auf zu Clara! Das war sein Tod.«
»Warum ist Vera denn nicht geflüchtet? Was denken Sie?«
»Weil sie zäh ist, starr und hartnäckig. Wahrscheinlich wäre Jürgen Sahmer auch noch am Leben, wenn er nicht so eine blödsinnige Fluchtbewegung gemacht hätte.«
»Glauben Sie das ernsthaft?«, fragte Müller.
»Aber ja«, sagte Schulze. Dann sah er nachdenklich Clara an und meinte: »Wenn ich wie ein Schachspieler überlege, wäre eine Möglichkeit, dass Clara das so wollte: dass sie ihn erwartete und erschoss.«
Clara sprang hoch und schrie: »So ein Scheiß!« Dann war es sehr still.
»Ach Clara-Mädchen, sei nicht sauer. Ich habe eben nur überlegt, was ich als Schachspieler denken könnte. Ich spiele jetzt aber nicht Schach.«
Sie begann erneut zu weinen. Dann stand sie auf und sagte schniefend: »Ich mache noch mal Kaffee.« Sie ging zwischen uns durch, sah Schulze an und wurde ganz zärtlich. »Wenn du Armleuchter mir gesagt hättest, was los war, hätte ich euch gar nicht verpfiffen.«
Er versuchte unter Schmerzen zu lächeln, aber es wurde nichts daraus.
»Sie haben also die guten, jungen, erfolgreichen Kapitalisten gespielt?«, fragte Müller, und da war eine Spur Verachtung in seiner Stimme.
»Oh, nicht nur gespielt. Das war schon faszinierend. Das Einzige, was mich an diesen wind schlüpfrigen, modernen, jungen Erfolgreichen stört, ist ihr auf Faustgröße geschrumpftes Gehirn. Es war manchmal regelrecht schwierig, in einer In-Kneipe zu hocken und sich zwei Stunden lang über V8-Motoren zu unterhalten, obwohl keiner von denen wusste, wie so ein Ding eigentlich funktioniert.« Er lachte hart.
»Was war mit den Frauen? Mit Ihrer Frau? Mit Sahmers Frau? Wussten die etwas?«
»Die wussten nichts, absolut nichts. Grenzows Freund, also ich meine unseren Chef Kanter, hatte so wenig Ahnung, dass er ihr eines Tage ein ausgefuchstes Preisproblem bei Düngemitteln in Südamerika erklärte. Genau das gab unseren Freunden in der DDR die Möglichkeit, die Leverkusener satt und schnell aus dem Geschäft zu schmeißen. Nein, niemand wusste etwas.«
»Niemand außer Volker«, sagte ich.
»Tja, Volker«, sinnierte er. »Ich möchte
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