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Der letzte Agent

Der letzte Agent

Titel: Der letzte Agent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacques Berndorf
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im Stasi-Archiv existiert?«, fragte ich.
    »Das weiß ich nicht«, meinte er zögernd. »Ich kriege wieder Schmerzen. Kann der Arzt kommen?«
    »Natürlich«, sagte ich. Ich hatte das Telefon noch nicht erreicht, als es klingelte und eine Frauenstimme bat: »Kann ich bitte Kriminaldirektor Müller sprechen?«
    »Herr Müller, für Sie.«
    Er hockte sich an meinen Schreibtisch und fragte knapp: »Ja?« Dann hörte er zu. Er legte den Hörer auf und schien verunsichert, aber er sagte kein Wort. Ich war sicher, dass dieser Anruf mit unserem Gespräch mit Schulze zu tun hatte, denn sonst hätten seine Leute ihn nicht gestört. Und ich hatte den Eindruck, dass Müller jetzt einen knappen, aber entscheidenden Vorsprung an Wissen besaß.
    Er setzte sich wieder in den Sessel und goss sich Kaffee ein. »Jetzt zu den Morden«, meinte er.
    »Ja«, sagte Schulze und wurde wieder ganz blass. »Jetzt zu den Morden.«
    »Einen Augenblick«, widersprach ich. »Wartet, damit ich nichts versäume. Doktor? Baumeister hier. Können Sie kommen? Der Patient hat wieder Schmerzen.«
    Er sagte, er käme sofort, und ich hockte mich wieder in die Runde.
    »Die Morde kann ich nicht erklären. Mit Gewalt hatten wir nie etwas zu tun«, sagte Schulze und kniff die Augen zusammen.
    »Aber Sie wurden doch regelrecht trainiert«, sagte ich. »Auch auf Gewalt.«
    »Das ist schon richtig. Wir bekamen neben unserer Uni-Fachausbildung eine komplette Spionageausbildung. Von Geheimtinten bis hin zum Funken und den üblichen körperlichen Geschichten. Tödliche Faustschläge und so. Aber wir brauchten es nie, Intellektuelle sind ja so harmlos.« Er grinste über seinen Schmerz hinweg.
    »Und eine Vermutung?«, fragte ich.
    »Nicht einmal das«, sagte er.
    »Aber Sie kennen diese Sorte Munition, nicht wahr?«, fragte ich nebenbei und sah ihn an, als habe mir ein guter Freund von ihm alles verraten.
    Er senkte den Kopf, nickte und wirkte trübe. Leise meinte er: »Es war eine Spielerei. Also, die Chemiker in der DDR hatten den Stoff, dieses Plastikzeug. Aber sie hatten keine Maschinen, um ihn unter hohem Druck in Speziallack zu verschließen und auf diese Weise Geschosse oder anderes herzustellen. Volker kam und erläuterte das Problem. Das Problem war die Maschine. Sie konnten sie nicht bauen. Sie hatten keine Werkstoffe für die Maschine. Also ließen wir uns ein paar Kilo von dem Zeug schicken und versuchten, diese Maschine zu bauen. Es war wirklich eine Spielerei. Wir schafften es – natürlich. Und dann probierten wir die Dinger am lebenden Objekt.«
    »Wie bitte?«, fragte Anni entsetzt.
    Schulze sah mich an. »Nun, Empörtsein ist gar nicht angebracht. Zunächst haben wir bei dem Zeug weder in der DDR noch hier an richtige Geschosse gedacht. Wir hatten das Material und wussten nicht, wie wir es industriemäßig komprimieren können, um es zum Einsatz zu bringen. Irgendwer hatte eine kleine Anzahl dieser Geschosse gebastelt. Der Stoff an sich ist phantastisch, er bläht sich bei der Berührung mit der Außenluft um dreihundert bis vierhundert Prozent auf. Unsere Techniker in Chemnitz hatten die grandiose Idee, dieses Zeug zum Beispiel bei Gas- und Wasserrohrbrüchen zu verwenden. In den uralten Leitungsnetzen der DDR-Städte ist das der Alltag. Wenn ich diesen Stoff um ein Rohr jage, macht er es sofort dicht; das heißt, wir können jedes Leck in Sekundenschnelle abdichten. Das Zeug ist Millionen Dollar wert, gar nicht abzuschätzen. Na ja, wir kauften uns also drei Schweine. Auf dem Viehmarkt in Jünkerath. Wir brachten die Schweine in das Haus nach Mirbach und legten … na ja, wir schossen auf sie. Das Zeug drang in die Körper ein und blähte sie auf. Wir kriegten einen Schreck, aber wir begriffen sofort, was wir da hatten. Wir bauten die Maschine dafür und schafften sie in die DDR. Seitdem haben wir nie wieder etwas davon gehört. Eigentlich könnte nur Volker noch derartige Geschosse haben, aber der wurde selbst das erste Opfer. Und wir … wir waren starr vor Schreck. Das Verrückte war: Volker war nicht angemeldet, das heißt, er ist außer der Reihe gekommen und hat sich mit keinem von uns getroffen. Nicht mit mir, nicht mit Sahmer. Wir beide hockten zusammen über einer Verpackung für Nussriegel. Vera kann er auch nicht getroffen haben. Sie war auf einem Physikertreffen in Wiesbaden. Also, wen hat er getroffen, und wen wollte er treffen? Als wir Volkers Bild in der Zeitung sahen, wussten wir, dass irgendeiner gekommen war, um aufzuräumen.

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