Der letzte Agent
Sachen über die Grenze?«
»Das war sogar sehr einfach. Die DDR-Leute hatten jede Menge Firmen bei uns, vor allem in West-Berlin. Die hast du angerufen, dass hier das und das abzuholen und an eine bestimmte Adresse in der DDR zu liefern sei. Dann fuhr ein Lkw vor, und alles ging seinen Weg. Ich habe sogar für Bleibe drei Nummernkonten einrichten müssen, eins in Vaduz, eins in St. Gallen und eins in Hongkong.«
»Bekam er auch Geld?«
»Er bekam Beratergebühren, wenn er mit uns ins Geschäft kam. Das war so üblich. Die DDR-Bonzen verdienten ja an uns gemessen wirklich beschissen. Wenn wir also mit Bleibe ein Geschäft von zweihundertfünfzigtausend Dollar machten, bekam er zehn Prozent auf eines dieser Konten. Kanter sagte immer: ›Sie brauchen doch Bewegungsgeld, mein Lieber!‹ Ich weiß, dass das viele Betriebe machten.«
»Also: Wenn Bleibe Kanter irgendwo im Ausland traf, bekam er Miezen und Kaviar und Sekt und so weiter. Und dafür verteidigte er den menschlichen Sozialismus?«
Wir sprachen miteinander wie zwei flüchtige Bekannte, freundlich und fremd.
»So war das die ganze Zeit.«
»Und wie ist das jetzt?«
»Na ja, die Mauer ist weg, die DDR auch. Jetzt ist Bleibe mit seinem Unternehmen ein Teil von Leverkusen. Und Bleibe ist wirklich clever, den bootet kein Mensch aus.«
»War er auch Agent der Stasi?«
»Das weiß ich nicht genau, aber wir sind immer davon ausgegangen, dass die Stasi systematisch von ihm Berichte über seine Westkontakte bekam. Und ich erinnere mich, dass Kanter ihm einmal im besoffenen Kopf so einen Bericht diktiert hat. Es war eben der reine politische Wahnsinn.«
»Überleg mal genau: Welche Vorteile hatte Kanter eigentlich durch die Verbindung mit Bleibe?«
»Na ja, das ist einfach: erstens die Geschäfte und zweitens die Verbindung. Über Bleibe führte der Weg zu den Russen, auch zu den Ungarn und Tschechen. Glaubst du eigentlich, dass ich das alles noch einmal raffe?«
»Aber sicher. Du wirst es im Laufe der Zeit verstehen lernen, und du wirst lernen, dir deine Blindheit nicht mehr übel zu nehmen. Hast du irgendeine Vorstellung, wohin die Grenzow verschwunden sein kann?«
»Ich habe darüber auch schon nachgedacht. Nein, ich weiß es nicht. Aber wenn ich sie wäre, würde ich in der Ex-DDR untertauchen. Und wahrscheinlich hat sie ja auch die Möglichkeit, an falsche Papiere zu kommen. Wenn ich Günther Schulze richtig verstanden habe, kann das keine Schwierigkeit sein. Geld genug hat sie sicher auch.«
»Ja, sicher.« Ich war müde und enttäuscht, und mir fiel keine Frage mehr ein. »Ich gehe eine Weile spazieren.«
»Hm.« Sie nickte, und dann trollte sie sich, hockte sich unter die Birke und hielt das Gesicht in die Sonne. Sie war sehr allein in diesen Stunden, und ich konnte ihr nicht helfen.
Wenn du dem Fluss einer Handlung stromaufwärts folgst, kommt unweigerlich der Punkt absoluter Erblindung. Du siehst nichts mehr, du stehst vor einem breiten Wüstenstreifen, hörst das Wasser gluckern und kannst nicht herausfinden, wo es entspringt. An diesem Punkt musst du dich fügen, nicht ins Grübeln geraten. Du musst versuchen, wieder auf den Teppich zu kommen, das Leben zu sehen.
In solchen Fällen gehe ich in die Kneipe zu Mechthild oder in die ›Tasse‹ nach Hillesheim. Es ist gleichgültig, ob Erwin mich mit fröhlich glitzernden Augen einen ›Hungerlappen‹ schimpft oder Trixi mir erzählt, wie bitter und lehrreich es war, als ihre Mama starb: Sie holen mich sanft aus dem Chaos meiner durchaus nicht geordneten Überlegungen.
Was blieb? Da war die verschwundene Vera Grenzow, da war ihr Chef und Geliebter, der Dr. Helmut Kanter. Da war der SPD-Bundestagsabgeordnete Sven Sauter, da war der Motorradfahrer Harry Lippelt, da war der Kanter-Kumpel Dr. Werner Bleibe.
Trixi sagte, das Walnusseis sei phantastisch, also bestellte ich mir davon und bekam augenblicklich Magenprobleme, was wohl mehr mit meiner Nervosität als mit der Qualität des Eises zu tun hatte. Ich bat Trixi um das Telefon und rief bei mir zu Hause an. Anni nahm beim zweiten Läuten ab, und ich sagte ihr: »Gib mir Clara, bitte. Und geht nicht aus dem Haus, während ich weg bin.«
»Wohin willst du denn?«
»Ich weiß noch nicht.«
Dann kam Clara an den Apparat. Ich fragte: »Wo wohnt dieser Harry Lippelt?«
»Südstadt, Düsseldorf. Da gibt es so einen kurzen Straßenstrich. Du findest ihn fast immer in einer Kneipe namens ›Oppossum‹. Falls er da nicht ist, musst du eine Gertie
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