Der letzte Agent
DDR-Ministeriums für Staatssicherheit und der Verwaltung Aufklärung des alten Ostberliner Verteidigungsministeriums arbeiteten etwa zweitausendsechshundert hauptamtliche und weitere rund zehntausend inoffizielle Mitarbeiter an der Gewinnung geheimdienstlicher Informationen bei uns in der Bundesrepublik. Wir wissen auch, dass jetzt immer noch rund sechshundert Ex-DDR-Spione unerkannt hier bei uns leben. Alle diese Leute bekamen zwei Befehle, als die Mauer fiel und die Wiedervereinigung nicht aufzuhalten war: Der erste Befehl war Schweigen, der zweite Befehl war, direkt und auf unbegrenzte Zeit unter Zerstörung aller Unterlagen und technischen Hilfsmittel schlafen zu gehen. Warum sind Sie nicht schlafen gegangen?«
Zum ersten Mal sah ich Schulze fast amüsiert lächeln. »Wir bekamen keinen Befehl, schlafen zu gehen, wir arbeiteten weiter.«
»Das ist aber seltsam«, sagte Müller gedehnt.
»Überhaupt nicht«, widersprach Schulze, »wirklich überhaupt nicht. Oder sind Sie etwa der Meinung, dass Spionage nicht mehr gefragt ist?«
»Arbeiten Sie für andere Herren?«, fragte ich.
»O nein«, antwortete er. »Sagen wir mal so: Wir arbeiten auf Vorrat.«
Anni räusperte sich. Sie hatte jetzt ein wirkliches Raubvogelgesicht. »Also Kinder, von dem ganzen Schmus verstehe ich nichts. Können Sie denn eine alte Frau einmal aufklären, was Sie so alles ausspionierten?«
»Na sicher«, meinte er großmütig. »Es ist ja wohl mein letzter Auftritt vor zivilem Publikum.«
»Das würde ich nicht so sehen«, sagte ich schnell. »Ich beabsichtige, über Sie zu schreiben!«
Sofort fragte er: »Mit wie viel Prozent bin ich dabei?«
»Günther«, platzte Clara dazwischen, »das bist doch nicht du!«
Schulze beachtete sie nicht. »Ich fragte nach den Prozenten und will eine Antwort. Schreiben Sie nur, oder machen Sie auch einen Film?«
»Fünf Prozent«, sagte ich. »Und kein Handel. Und jetzt verdammt noch mal erzählen Sie die Geschichte.«
»Das darf alles nicht wahr sein«, flüsterte Clara.
Anni murmelte: »Ich mach’ noch mal Kaffee«, und ging hinaus. In der Tür sagte sie: »Junger Mann, Sie sollten jetzt berichten und aufhören mit diesen merkwürdigen Scheinduellen. Das ist nicht komisch.«
»Sie bekamen also keinen Befehl schnellstens abzutauchen und still zu sein?«, fragte Müller skeptisch.
»Nicht die Bohne«, entgegnete Schulze. »Warum sollten wir denn aufhören? Da gab es zum Beispiel einen amerikanischen Kunststoffhersteller, der einige Verkaufsstrategien und andere Feinheiten kaufen wollte. Also, warum aufhören?«
»Ja, ja«, seufzte Müller.
»Die Geschichte!«, forderte ich. »Ihre fünf Prozent können Sie in den Schornstein blasen, wenn Sie nicht langsam anfangen.«
»Ich starte also«, sagte er; fast klang er gutgelaunt. »Wir kamen alle von der Ostberliner Humboldt-Uni, Vera Grenzow, Jürgen Sahmer und ich. Die genauen Datierungen unserer Einsätze brauche ich ja nicht zu geben, sie sind auch nicht wichtig. Als Erste kam Vera über die Grenze. In West-Berlin. Da war schon alles eingefädelt. Sie dürfen mich nicht fragen, wer das einfädelte. Sie bekam einen Job im Konzern in Leverkusen. Genau den Job, den wir brauchten. Bei Sahmer war das ein bisschen komplizierter, weil wir ihn dicht an Vera platzieren mussten. Er ging also in der Vorbereitung in das Zuchthaus in Bautzen – angeblich natürlich als politischer Häftling. Er wurde von der Bundesregierung freigekauft. Die Summe lag bei einhundertsechzigtausend Mark. Vera war genau informiert und sagte ihren Konzernherren, sie sollten sich um Sahmer bemühen, Sahmer sei klasse in seinem Fach. War er auch. Er war kaum über die Grenze, als er den Job bei Vera bekam. Ich kam als dritter. Ich kam als Flüchtling über Ungarn. Vor vier Jahren. Damit waren wir komplett.«
»Arbeitsziele?«, fragte Müller knapp.
»Das Übliche«, meinte Schulze. »Wir informierten uns konzernweit über Absatzmärkte, neue Marktstrategien, Rohstoffpreise, technische Neuerungen in der Fertigung, neue Patente, neue Maschinen.«
»Wie lautete Ihre Hitliste?«, fragte Müller knapp.
»Wir haben ausgerechnet, dass wir der DDR rund siebenhundert Millionen Dollar an Entwicklung und Investment erspart haben. In einem Fall konnten wir in China einen bestimmten Markt an Plastikbearbeitungsmaschinen zu fast hundert Prozent erobern. Das allein war ein Riesending. Aber so was rechnen wir eigentlich nicht mit, das fiel nebenbei mit ab.«
»Und nun zur Steuerung
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