Der Letzte Askanier
übers Eis. Wo zwei zusammenstanden, war der Tod gewiß, nur einzeln kam man durch, indem man auf dem Bauch, die Hände und Füße weit von sich gestreckt, Richtung Ufer kroch, immer in der Angst, das Pochen des Herzens könnte das Eis zerhämmern. Oder man schlich zitternd mit weiten Schritten an Land.
Hans Lüddeckes Glück war es gewesen, auf festes Eis gerutscht zu sein. Während sein Pferd versank, warf er Helm und Schild weit von sich und stürmte mit der Lanze zum Markgrafen hin, der sich, sein Kopf war deutlich zu erkennen, an die Eiskante klammerte, aber allein nicht retten konnte, weil der Rand vor ihm immer wieder brach. Zu schwer war er im Eisenkleid.
Aber Hans Lüddecke war ein zu massiger Mann. Als er dicht bei Rehbock war, krachte es auch unter ihm. Mit der Lanze hätte er sich retten können, aber er schleuderte sie zu Rehbock hinüber. »Rette dich! Gnade Gott mir armen Sünder!«
Er sah sie noch übers Eis rutschen, vermochte aber nicht mehr zu sehen, ob sie den Markgrafen auch wirklich erreichte. Da war er schon für immer versunken.
FÜNFTERTEIL
Ein Ende ohne Schrecken
KAPITEL 27
1352 – München, Krakau, Ostpreußen und Litauen
M einhard fieberte der Begegnung mit Boccaccio schon seit Tagen entgegen. Als er ihn dann leibhaftig vor sich sah, war er zunächst enttäuscht. Der Dichter, nur ein wenig älter als er, war groß und von kräftiger Gestalt. Sein Gesicht war rund und die Nase am unteren Teil etwas platt geraten. Seine Lippen waren ziemlich dick, jedoch von schöner Linienführung. Das Kinn zeigte ein Grübchen, so daß er insgesamt eher einem fröhlichen Prior glich, wie ihn Meinhard in vielen Klöstern gesehen hatte, als einem in sich gekehrten Dichter und Asketen. Auch plauderte er gern und viel und konnte ausgesprochen witzig sein.
»Ganz Italien feiert Euch – Ihr müßt der glücklichste Mensch auf Erden sein!« rief Meinhard enthusiastisch aus.
Boccaccio lachte. »Wie es einem geziemt, der 1313 geboren ist – zweimal die Dreizehn! Und dazu noch unehelich.«
»Als Kind einer großen Liebe – nun. Das soll sich alles in Eurem ›Dekameron‹ widerspiegeln, sagen die Leute.«
»Ich hoffe es. Aber meine Jugend, o Gott!«
»Euer Vater war ein Florentiner Kaufmann und Diplomat?«
»Boccaccio di Chellino, ja, und was kann eine solche Mischung der Berufe schon anderes ergeben als einen schrecklichen Menschen? Zum Glück war meine Mutter vornehm, anmutig und wesentlich jünger. Und sie kam aus Paris. Jeanne, Gianna. Aber sie ist gestorben, bald nach meiner Geburt.«
Meinhard schwieg einen Augenblick, um sein Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. »Aber wahrscheinlich hätte sich Euer Genie nicht entzündet, wenn sich Euer Leben an ihr orientiert hätte und nicht an Eurem Vater – den habt Ihr als Reibefläche gebraucht …«
Boccaccio nickte. »Nun ja, es waren fast zu viele Reibungen. Erst läßt er mich Kaufmann lernen, und ich muß zu meinem Lehrherrn nach Neapel, dann – als ich einundzwanzig bin – befiehlt er mir, einen anderen Beruf, nämlich Recht, zu studieren, kanonisches Recht! Um reich zu werden!« Der Italiener schüttelte sich vor Lachen. »Bei den kirchenrechtlichen Normen – den ›canones‹ – habe ich zuerst einmal an Feuerrohre gedacht.«
»Und wann habt Ihr Eure Fiammetta getroffen, Euer Flämmchen, das dann erst das richtige Feuer ergeben hat?«
»Am Ostersonnabend 1338 in der St.-Lorenzo-Kirche in Neapel …« Boccaccio schloß die Augen, um das Bild vor sich zu haben.
»Eure große Muse, die schöne Maria aus dem Geschlecht der Grafen Aquino …«
»Sie hat es mir nicht schwergemacht, sie zu erobern, doch das Herzeleid, als sie mich bald darauf verraten hat! Aber was werden sie später schreiben: Nur aus dieser Seligkeit, aus diesem Schmerz erwuchs der Dichter …«
»… und gesellte sich zu Dante und Petrarca«, ergänzte Meinhard.
»Nützt es einem nach dem Tode wirklich, unsterblich zu sein?«
»Beim Tod vielleicht, aber danach …«
»Warten wir's ab.« Damit, fand Boccaccio, habe man nun genug über ihn geplaudert und sollte besser auf das zu sprechen kommen, was ihn gen Norden geführt hatte: die Politik. »Ihr wißt, daß mich die Städte Florenz, Siena und Perugia als Diplomaten zu Euerm Herzog schicken, um ihn um Beistand gegen Johann Visconti zu bitten?«
»Ja, gegen den all- und übermächtigen Herrn und Bischof von Mailand, ich weiß. Aber der Herzog Konrad von Teck ist sehr dagegen – und er ist
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