Der letzte Aufstand
Croissants, die noch immer genau so gut schmeckten, wie er sie von seinem letzten Parisaufenthalt in Erinnerung hatte, und machte sich dann auf, um ein wenig amerikanischer Tourist zu spielen. Pete staunte immer wieder darüber, wie man seine Landsleute auch auf fünfzig Meter Distanz sofort erkennen konnte. Mit seiner Sonnenbrille, dem sportlichen Rucksack und der umgeschnallten Bauchtasche würde sicher niemand auf die Idee kommen er sei Franzose. Er war sozusagen bekennender New Yorker.
Er schlenderte bei prächtigem Wetter mit blauem Himmel über den Trocadéro Platz und bewunderte einmal mehr die fantastische Aussicht, die man von dort aus auf den Eiffelturm hatte. Paris hatte einfach etwas Nostalgisches für ihn, wobei Pete als ausgebildeter Journalist natürlich genau wusste, dass das Wort Nostalgie vom griechischen Wort Nóstos für Heimkehr und Álgos für Schmerz zusammengesetzt war, und er als Nicht-Pariser kaum ein sentimentales Heimweh für die Stadt empfinden durfte. Trotzdem, obwohl er nie hier gewohnt hatte, erfüllte ihn die Stadt doch immer wieder mit einem Gefühl eines Daheim-Seins, vielleicht einfach wegen ihrer reichen kulturellen Vergangenheit, oder weil einer seiner Lieblingskomponisten vor allem hier gewohnt und gewirkt hatte: Gabriel Fauré.
Pete hatte seine neuen Kopfhörer, die er sich am Flughafen in New York noch gekauft hatte, ins Ohr gestöpselt. Er hörte gerade die Geigensonate in A-Dur von Fauré, als er von hinten an der Schulter gestupst wurde. Er drehte sich um. Ruhig und besonnen wie immer stand Henk vor ihm. Seine Gefolgschaft, Tam und Terry, hielten Distanz und sassen auf den Treppenstufen eines nahen Gebäudes.
„Sei gegrüsst, Theke.“
Pete nahm die Kopfhörer aus dem Ohr.
„Hallo ...“
„König Karel schickt dir seine Grüsse und Hoffnungswünsche, dass du deine Mission zu seiner Zufriedenheit erledigen konntest.“
„Ich hab die Adressen. Wie geht es Livia?“
„Ich war vor zwanzig Minuten bei ihrer Heilerin. Es geht ihr gut; sie ist auf dem Weg der Besserung.“
„Sehr gut!“
Pete zog den Reissverschluss seiner Bauchtasche auf und begann darin zu kramen. Dann zog er den Zettel hervor. Er wedelte ihn vor Henks Gesicht auf und ab.
„Hier sind die Adressen. Ich hab meinen Teil des Deals erfüllt. Wann kann ich Livia sehen?“
„Nicht so schnell, Theke. Wir sind eurer Schriftsprache nicht mächtig. Du musst mir die Adressen nennen, damit ich sie mir merken kann.“
„Ihr könnt nicht lesen?“
„Wir haben das Lesen vor langer Zeit abgeschafft, weil es den Kontakt in der Bevölkerung vermindert. Zudem hatten wir unsere eigene Schrift, die der euren wohl kaum entspricht.“
„Ist das nicht eine Rückwärts-Entwicklung? Die Schrift abschaffen?“
„Vieles, das mit der Wende des Adlers zu tun hat, sieht nach einer Rückwärts-Bewegung aus, doch es sind frei gewählte Verzichte, die jede Reifung mit sich bringt. Vielleicht verstehst du das noch nicht, Theke. Lies mir die Adressen vor!“
Pete schüttelte ungläubig den Kopf, las die Anschriften der Gefängnisse und Komplexe dann aber brav vor. Henk wiederholte die Strassennamen und Ortschaftsangaben.
„Und wenn du sie wieder vergisst?“, fragte Pete.
„Wenn du die Schrift aufgibst, erhältst du ein reines Gedächtnis. Ich werde diese Adressen erst mit meinem Tode wieder verlieren.“
„Ihr seid ein komisches Volk. Aber ich denke, wir könnten viel von euch lernen ...“
Henk winkte den zwei Männern auf der Treppe zu. Diese erhoben sich und gesellten sich dann strammen Schrittes zu Henk und Pete.
„Du hast deinen Teil der Abmachung erfüllt, Theke. Auch wir werden uns an die Abmachung halten. Du kannst Livia wieder sehen, sobald sie ihre Schuld abgetragen hat.“
„Ihre Schuld?“
„Sicher. Sie schuldet Tam ihr Leben. Er hätte sie nach der Begegnung mit dem Vard nicht zu unseren Heilern bringen müssen, sondern hätte sie in der Wohnung verbluten lassen können. Deshalb muss sie ihm laut unseren Gesetzen und Sitten drei Jahre lang dienen.“
Pete glaubte sich verhört zu haben.
„Wie bitte?“
„Livia muss die nächsten drei Jahre unserem Anwärter Tam dienen. Danach erhält sie ihr Leben zurück und kann wieder mit dir zusammen sein.“
„Du machst Witze? Dieser Dreckskerl hier malträtiert meine Freundin und bringt sie an den Rande des Todes und deshalb muss sie ihm dienen? Wie wäre es umgekehrt? Das würde verdammt nochmal mehr Sinn machen.“
„Er hätte sie ihrem
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