Der letzte Aufstand
Traum war in Erfüllung gegangen, als sie ihn im Camp vor einigen Wochen kennen gelernt hatte. Und die erste gemeinsame Nacht war ein Geschenk gewesen, das ihr zu sagen schien Auch du hast dein Glück in der Liebe verdient.
Noch einmal versuchte sie ihn über den Begleiter zu erreichen. „Guillaume, bist du da? Gib mir ein Zeichen, bitte!“
Doch die Antwort blieb aus. Yeva hupte, versuchte sich wie ein Krankenwagen eine Mittelspur zu erzwingen und die Autos zum Ausweichen zu bringen, aber sie kam nur im Schritttempo voran. Sie hatte kein Blaulicht, keine Sirene. Niemand wusste, was dieser drängelnde Peugeot in der Strassenmitte wollte. Irgend so ein Narr versperrte ihr sogar den Weg, so dass sie aussteigen und ihm ihren Ausweis vor die Nase halten musste. Arschloch, sagte Yeva frustriert, als sie wieder am Steuer sass. Aber das Fluchen änderte nichts daran, dass sie noch sechs Kilometer von Ermenonville entfernt war und dass es bei diesem Tempo noch eine gute halbe Stunde dauern konnte, bis sie in dem Wald um Ermenonville ankommen würde.
Aus dem Geschichtsunterricht wusste sie, dass genau in diesem Wald 1974 unzählige Menschen ums Leben gekommen waren, als ein Flugzeug dort wegen einer undicht geschlossenen Ladetür in tausend Teile zerrupft wurde. Und jetzt war ihr Liebster in genau diesem Wald und wurde von einem Amok gelaufenen Irren festgehalten und bedroht.
Sie schlug auf das Steuer. „Merde, merde, merde!“
6 Kilometer weiter nördlich, im Wald von Ermenonville
Philippe Broccart hatte den Wagen in den dichten Wald hinein gefahren. Zuerst auf einen Parkplatz und dann quer durch den Wald hinter eine Böschung, so dass der Wagen vom Parkplatz aus nicht zu sehen war. Er stieg aus und öffnete die hintere Tür auf der Seite, wo Guillaume sass.
Guillaume hatte innerlich schon alle möglichen Fluchtstrategien durchgespielt. Es sah gar nicht gut aus. Broccart hatte die Handschellen beim Überprüfen so fest angezogen, dass er seine Hände keinen Zentimeter bewegen konnte und aus der Wunde des Streifschusses floss kontinuierlich Blut. Sein Ärmel war ganz durchtränkt davon. Kam dazu, dass der Blutverlust und der Schock langsam ihr Tribut zu fordern begannen. Guillaume hatte kalt und er schwitzte am ganzen Körper. Er war dem Ganoven ausgeliefert.
„Nicht mehr ganz so überlegen wie im Hotel in Nizza? Nicht wahr?“, sagte Broccart und wedelte mit der Waffe vor Guillaumes Gesicht auf und ab.
„Es war nichts Persönliches ... ist mein Job ...“, antwortete Guillaume.
„Für mich war es sehr persönlich! Du Bullenschwein!“ Broccart verpasste Guillaume einen Schlag auf die Wunde am Arm. Guillaume schrie auf.
„Bis vor wenigen Sekunden hab ich noch nicht gewusst, was ich mit dir anstelle. Aber jetzt, wo ich dich sehe, kocht mir die Galle über!“, schrie Broccart. Speichelfetzen flogen ihm wie kleine Geschosse von einem Katapult aus dem Mund. Guillaume starrte auf den Vordersitz. Er wollte den Spinner, der offensichtlich ein Jähzorn-Problem hatte, nicht noch weiter reizen.
„Schau mich an! Du Narr!“
Guillaume drehte den Kopf widerwillig. Dabei versuchte er unterwürfig zu wirken. Was tat man, wenn ein Spinner, der schlichtweg alles als Provokation erlebte, einen mit einer Waffe bedrohte? Dem Blick standzuhalten war falsch. Ihn nicht anzuschauen war falsch. Angst zu zeigen war in solchen Situationen fast immer falsch. Was tun? Guillaume bemerkte, wie auch sein Denken nicht mehr klar funktionierte. Normalerweise war sein Denken flink und beweglich. Jetzt fühlte es sich wie eine betäubte Gliedmasse an.
„Ich werde dich umnieten! Heute ist dein letzter Diensttag, Bulle!“, spuckte Broccart.
☸
Paris, 10 Tage nach „Tag X“
17.50 Uhr
„Mein Name ist Olivé Palms.“ Palms stand wie ein Felsen in der Brandung, aufrecht.
„Woher bist du, wenn du kein Theke bist?“, fragte Henk.
Kahil, Lea und Helena folgten dem Gespräch der beiden wie einem Tennismatch. Ihre Köpfe drehten sich synchron dem jeweils Sprechenden zu. Palms war ruhig, gefasst und überlegen. Als habe er die befremdliche Situation klar im Griff. Er wartete einen langen Moment bevor er antwortete.
„Ich bin der Kronprinz von Noooh und vor dreissig Jahren zu den Theken gewandert, um ihnen die Wende des Adlers zu ermöglichen.“
Henk liess sich auf die Knie fallen. Er senkte den Kopf.
„Verzeih mir Kronprinz! Ich habe dich nicht erkannt ...“
„Was?“, fragte Lea.
Kahil sass verkrampft auf
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