Der letzte Aufstand
Menschen haben einen Punkt, von wo aus sie die Welt und ihre eigenen Gedanken betrachten. Diesen Punkt kann man verändern, so dass man die ganze Perspektive ändert. Man kann lernen die Welt aus der Sicht eines Hundes zu sehen, oder aus der Sicht eines Mitmenschen, oder aus der Sicht einer Kaffeetasse. Alles hat Bewusstsein und mit jedem Bewusstsein kann man Kontakt aufnehmen und Informationen austauschen.“
„Halt, halt ...“, rief Bohuslav, den alle bereits einfach den aufmüpfigen Tschechen nannten. Er akzeptierte nichts, ohne es nicht vorher auszudiskutieren.
„Ja?“, fragte Helena.
„Du willst uns klarmachen, dass wir genau so ein Hund sein könnten, oder eine Kaffeetasse?“
„Nein, nicht sein , aber so wahrnehmen wie ein Hund oder eine Tasse.“
„Aber eine Tasse hat doch gar keine Sinnesorgane. Wie soll sie irgendetwas wahrnehmen?“
„Braucht es für‘s Wahrnehmen wirklich Sinnesorgane?“
„Ich jedenfalls sehe mit meinen Augen und höre mit meinen Ohren. Wenn ich die Augen schliesse, wird‘s dunkel. Wenn ich die Ohren zuhalte, wird‘s still.“
„Hast du schon mal geträumt?“
„Ja.“
„Hast du schon einmal irgendetwas in deinem Traum gesehen?“
„Ja, schon ...“
„... aber deine Augen hattest du während dem Schlafen zu, oder nicht?“
„Ja.“
„Also hast du ohne Augen gesehen?“
„Das zählt nicht! Du verdrehst die Dinge ...“
„Ich will nur relativieren. Die Sache ist, dass wir in vielen Belangen so indoktriniert sind, dass wir das Offensichtliche übersehen. Aber der einzige Beweis, den ich dir geben kann, Bohuslav, ist deine eigene Erfahrung. Wenn du die Welt einmal aus der Sicht einer Kaffeetasse betrachtet hast, dann wirst du wissen, dass du es nicht erfunden oder erdichtet hast.“
„Okay, ich lass mich gerne überzeugen. Erweitere meinen Horizont!“
„Das wirst du selbst tun müssen, aber gehen wir weiter. Was wir in den Übungen heute zu erreichen hoffen, ist die Loslösung des Standpunkts. Wir wollen die Perspektive flexibel machen und lernen, unseren zementierten Standpunkt zu Gunsten anderer, vielleicht interessanterer Standpunkte aufzugeben.“
Helena erklärte eine erste Übung im Detail. Danach liess sie die Gruppe kleine Teams bilden, in denen geübt wurde.
Danielle hatte vier Übpartner, mit denen sie normalerweise trainierte. Neben Luc waren das Noemi, eine Portugiesin französischer Abstammung mit langem dichtem schwarzem Haar, und die beiden Mitglieder des türkischen Teams: Hatice und Mehmed. Für die neue Übung hatte sie sich mit Mehmed zusammen getan.
Der erste Schritt der Übung war nicht sehr schwer hinzukriegen. Es ging um sogenanntes Second Positioning. Mehmed musste Danielle eine kleine Geschichte aus seinem Leben erzählen, während Danielle versuchte die Geschichte als ihre eigene wahrzunehmen, als ob sie sie selbst erlebt habe.
Das sei der erste Schritt zum Aufgeben des eigenen Standpunktes, hatte Helena erklärt. Und so ging das drei Stunden hin und her: eine Geschichte, Rollenwechsel, Partnerwechsel, eine Geschichte, Rollenwechsel, Partnerwechsel, eine Geschichte. Nach drei Stunden war das Gefühl der eigenen Identität etwas aufgelockert. Was waren eigene Gedanken? Was fremde? Wo fing man selbst überhaupt an? Wo hörte man auf? Was war die eigene Essenz, wenn man so einfach den Standpunkt wechseln konnte? Was machte einen Menschen in seinem Inneren aus, wenn nicht der einzigartige Standpunkt und die eigenen Gedanken?
Der nächste Übungsschritt ging dann bereits drastisch weiter in der Verschiebung des Standpunktes.
„Im nächsten Schritt müsst ihr lernen euren Standpunkt nicht in der Wahrnehmung von Gedanken zu verschieben, sondern ihn in der Wahrnehmung eurer visuellen Daten zu verschieben.“
Ein grosses Fragezeichen schwebte vor dem inneren Auge der C-Teams. Man sah es dem Gesichtsausdruck jedes Einzelnen an.
Luc hob fragend die Hand. „Kannst du das etwas genauer erklären?“
„Sicher. Die Übung trainiert die Flexibilität des inneren Auges. Ihr alle blickt in diesem Moment von einem spezifischen Punkt aus in die Welt. Das ist eure visuelle Perspektive. Wenn wir diese verschieben wollen, so verändern wir normalerweise die Lage unseres Körpers. Wir begeben uns an einen anderen Ort und haben dann eine neue Perspektive. Doch in der folgenden Übung lassen wir den Körper, wo er ist, und wir verschieben nur den Standort des inneren Auges.“
Bohuslav rutschte bereits wieder unruhig auf seinem Stuhl hin
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