DER LETZTE BESUCHER
stadtauswärts wälzte. Der ICE , der in der Ferne über die Schienen der Eisenbah n brücke im Westen in Richtung Hauptbahnhof fuhr , nahm sich aus wie eine Spielzeugeisenbahn. Selbst die Flu g zeuge, die hier schon sehr niedrig über dem Main zum Land e anflug ansetzten, hörte man nicht.
Becker setzte sich, blickte auf die Uhr und seufzte. Er war müde und wollte nach Hause. Die Ruhe lähmte ihn. Wer war dieser Dirk Bauer , dass er ihn so lange warten ließ? Er biss in einen Keks und schluckte den Bi s sen hastig hinunter, als sich die Tür zum Flur öf f nete.
„ Es tut mir leid, bitte entschuldigen Sie, ich wurde noch aufgehalten. Guten Tag, Herr … ? “ Ein schlanker , groß g e wachsener Mann im du nke l grauen Anzug trat ein und kam rasch auf ihn zu. Flinke Augen musterten ihn durch eine leicht getönte Designerbrille schnell und gründlich von oben bis unten und blieben dann irgen d wo unterhalb der linken Schläfe des Kommissars hängen. Schmale Lippen in einem blassen beherrschten Gesicht, in dem sich jetzt ein Anflug von U n ge du ld zeigte. Becker war aufgestanden, setzte sich jedoch wieder, als sein G egenüber mit der Hand unge du ldig abwinkte und sich ebenfalls setzte. Er zeigte seinen Die n stausweis:
„Becker, Ober kommissar Ulrich Becker , Krimina l polizei. Ich sagte das bereits am Empfang.“
„Ja, ja, richtig, aber – so s agen Sie doch schon – w as ist denn pa s siert?“ Und mit einem Grinsen: „Habe ich etwa jemanden umg e bracht?“
Becker überging diese Bemerkung und teilte Dirk Bauer kurz und sachlich mit, dass seine geschiedene Frau Sabine Schneider einem Verbr e chen zum Opfer gefallen sei und es im Auge n blick noch keine konkrete Spur gebe, die auf den Täter hinweise. Während er sprach, b e obachtete er sein Gegenüber scharf. Dessen Gesicht blieb völlig unbewe g lich. Nur ein unmerkliches Zucken um seine Augen verriet , dass die Nachricht ihn o f fensichtlich doch nicht ganz kaltließ. Weni g stens spielte er Becker kein Theater vor und heuchelte Trauer, wo er keine empfand.
„Wir stehen noch ganz am Anfang und befragen jetzt zunächst einmal alle Personen aus dem Umfeld von Frau Schneider. Dazu gehören natü r lich auch Sie, Herr Bauer.“
„ Klar , das verstehe ich, aber ich kann Ihnen wirklich dazu nicht viel sagen. Ich wusste überhaupt nicht, dass Sabine – ich meine Frau Schneider – also dass sie inzwischen hier in Frankfurt lebt, äh, g e lebt hat.“
„ Nun, jetzt wissen Sie es . “ Becker nickte bestätigend . „Wann haben Sie Ihre geschiedene Frau denn zum letzten Mal g e sehen?“
„Das ist schon ewig her, warten Sie, das muss damals n ach unserer Schei du ng vor ungefähr sechs Jahren in Ha m burg g e wesen sein.“ Und nach einem kurzen Zögern fügte er noch hinzu: „ Wissen Sie, unsere Schei du ng damals war nicht sehr erfreulich. Wir sind nicht als so genannte ´ gute Freunde ´ auseinande r gegangen , wenn Sie wissen, was ich meine.“
Becker unterbrach ihn: „Seit wann leben Sie hier in Fran k furt?“
„Seit et was mehr als zwei Jahren. Ich wurde damals nach Frankfurt versetzt und bin mit meiner Frau – i ch bin wieder verheiratet, müssen Sie wissen – hierher nach Frankfurt g e zogen.“ Und leise wie zu sich selbst : „ Wenn ich damals g e wusst hätte …“, er brach ab.
„Wo waren Sie gestern Abend zwischen achtzehn und zwanzig Uhr?“ , fragte Becker, ohne weiter darauf einzug e hen , knapp und sac h lich .
Bauer zuckte zusammen: „Sie glauben doch nicht etwa , dass ich … ? Was soll das denn? Sind Sie verrückt g e worden“ , brauste er auf, und als Becker einfach nur schwieg und ihn ruhig ansah: „Also da sind Sie aber gewaltig auf dem Holzweg! Ich war bis, lassen Sie mich nac h denken, bis gegen neunzehn Uhr dreißig im Büro, danach war ich eigentlich noch zum Essen verabredet, aber mein Bekannter hat mich versetzt, und ich habe dann allein gegessen und bin a n schließend nach Hause gefahren . Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen gern die Adresse des Lokals. Man wird sich dort sicher an mich e r innern . “
„Und im Büro, war außer Ihnen noch jemand dort, als Sie for t gi n gen?“
„Sie werden es nicht glauben, Herr Kommissar, aber ich bin immer der Letzte. Ich sitze oft sogar bis spät in die Nacht am Schrei b tisch. Abends stört mich niemand, da kann ich wenigstens in Ruhe arbeiten, ausnahmsweise klingelt dann auch kein Telefon mehr. Aber vielleicht e r innert sich ja irgendeine Putzfrau an mich.
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