DER LETZTE BESUCHER
Wochenende entla s sen wurde.
13
H elen saß am Fenster ihres Zimmers und schaute nac h denklich in den Park. Es ging ihr besser, der Arm schmerzte nicht mehr , und die Blutergüsse begannen , sich zurückzubilden. Die ruhige Atmosphäre des Kranke n hauses umgab sie wie ein schützender Kokon und half ihr , die E r eignisse der letzten Tage zu verarbeiten. Das G e spräch vorgestern mit der Ärztin hatte ihr gutgetan. Sie hatte sich ihr anvertraut, und Dr. Hellermann hatte ihr g e raten, möglichst bald einen Therapeuten aufzusuchen und ihr auch gleich einen Ko l legen empfohlen. Sie nahm sich vor, ihn gleich in der nächsten Woche anz u rufen.
Ihre Gedanken wanderten im Kreis. Immer und immer wieder. N ach dem Gespräch mit Dr. Hellermann war sie zunächst fest entschlossen gewesen, Daniel zu ve r lassen. Am Abend war er dann bei ihr gewesen. Sehr kleinlaut hatte er an ihrem Bett gesessen und zaghaft ihre Hand g e streichelt. Er machte sich die größten Vorwürfe, dass er das Balko n geländer nicht früher repariert hatte :
„Gleich morgen erledige ich das . W enn du nach Hause kommst, ist alles wieder in Ordnung“, hatte er eifrig vers i chert. „Warum hast du überhaupt wieder da draußen heru m gestanden, du hattest doch versprochen, nicht mehr ans G e länder zu gehen ?“
Aber noch ehe sie antworten konnte, hatte er schon weite r gesprochen u nd ihr immer wieder beteuert, wie sehr er sie doch liebe , und dass er sie nicht ve r lieren wolle. Und wie schon so viele Male vorher war sie wieder schwach g e worden . Diesmal war es allerdings anders als sonst gewesen . Die Worte von Dr. Hellermann hatten ihr Mut g e macht und sie g estärkt . Zum ersten Mal hatte sie gewagt, Bedingungen zu stellen, hatte ihm erklärt dass sie gern wieder arbeiten würde und vor allem auch die alten Freunde von frühe r w iede r sehen wollte.
„Welche Freunde denn? Ich denke, du kennst niemanden hier? “
Bei diesen Worten meinte s ie , ein kurzes Flackern in Daniels Augen zu sehen . A ber da hatte sie sich wohl g e täuscht, denn er hatte sofort genickt und war mit allem ei n verstanden gewesen , wenn sie nur bei ihm bliebe. Sie hätte ihm jetzt gern von Sabine erzählt und ve r stand nicht mehr, dass sie es nicht gleich damals getan hatte, nachdem sie die Freundin wieder getroffen hatte. Hier in der friedlichen A t mosphäre ihres Kranke n zimmers mit einem liebevollen und besorgten Daniel waren ihr auf einmal alle ihre Ängste übe r trieben erschienen .
„Doch, stell´ dir vor, neulich beim Einkaufen … “, fing sie an, doch er hatte sie sofort unterbrochen und weite r geredet: „ Aber das hat ja noch Zeit . Z uerst fahren wir beide jede n falls in Urlaub, nur du und ich, ein paar Tage irgendwohin , in die Berge vielleicht , damit du dich erholen kannst. Du wirst sehen, a l les wird wieder wie früher. “
Helen stand auf und öffnete das Fenster. Die Sonne stand schon tief und blendete sie. Sie schaute nach unten. Ein Mann saß auf einer Bank und rauchte. Seine Krücken lagen neben ihm. Er blickte zwei Krankenschwestern nach , die mit eiligen Schritten vorbe i liefen , und pfiff du rch die Zähne . Eine junge Frau schob eine ältere im Rollstuhl und r e dete dabei sanft auf sie ein. Ab und zu streichelte sie den Arm der Anderen, der unbeweglich auf der Lehne des Rol l stuhls lag. Die Kranke nickte ab und zu und antwortete. D a bei lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Ein junges Pärchen – sie hochschwanger, er mit a n gespanntem Gesicht und einer Reisetasche in der Hand – strebten mit eiligen Schritten vom Parkplatz dem Ei n gang des Krankenhauses zu. Helen musste unwillkürlich lächeln. Vie l leicht könnte sie ja … Sie presste die Fäuste an die Schläfen.
Oh Gott, v ielleicht war sie wirklich hysterisch, wie ihr Mann immer wieder behauptete. Bildete sich alle ihre Än g ste, ihre Depre s sionen, ihre Einsamkeit nur ein . Auf alle Fälle würde sie unbedingt den Therapeuten aufsuchen, den Dr. Hellermann ihr empfohlen hatte. Sie schloss das Fe n ster wieder und schaute auf die Uhr. Morgen um diese Zeit würde sie schon zu Hause sein. Sie freute sich darauf.
14
K ommissar Becker schaute missmutig aus dem Fe n ster. Das Wetter war umgeschlagen. Über Nacht hatte sich der Himmel zug e zogen, und es schüttete wie aus Kübeln. Becker blickte auf den Untersuchung s bericht vor sich und kratzte sich am Kopf. Viel Neues war nicht dabei herausg e
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