DER LETZTE BESUCHER
das Kind war irgendwann übe r müdet eingeschl a fen, als plötzlich fremde Menschen an seinem Bett standen und den kleinen Jungen for t brachten zu einem Haus in ein Zimmer, in dem noch andere Kinder waren und eine große kräftige Frau, zu der er Tante Gertrud sagen sollte. Tante Gertrud erklärte ihm später , dass seine Mutter fortgegangen sei und er deshalb jetzt eine Weile hie r bleiben müsse . Sie war freun d lich zu ihm, denn der Kleine tat ihr leid. Aber sie hatte nicht genug Zeit für ihn, denn es gab noch die andere n Kinder, um die sie sich auch kümmern musste, und das störte ihn. Er hasste die anderen Kinder.
Einige Zeit danach holte man ihn wieder ab und steckte ihn in ein Waisenhaus . Er hatte ve r sucht, eines der Kinder, ein kleines schmächtiges Mädchen, die Kellertreppe hi n unterzustoßen ; e in a n deres, einen Jungen, der etwa genau so alt war wie er, überredete er auf dem Dachboden zu einer Mutprobe , die diesen fast das Leben g e kostet hätt e.
Später in der Schule war er anfangs ein Außenseiter. In den Pausen saß er meistens in sich gekehrt allein auf der kleinen Steinmauer, die die lange Reihe der Fahrra d ständer vom übrigen Schulhof abtrennte . Nur manchmal blickte er sehnsüchtig zu den anderen Kindern, die miteinander spie l ten, rauften oder ihre Pausenbrote tausc h ten. Er wurde nie mehr zum Mitspielen aufgefordert, und seine Pausenbrote wollte auch niemand mehr, seit er e inmal unve r sehens in eine Schlägerei mit einem Mitschüler geraten war. Der hatte ihn arglos gefragt , ob seine Eltern tot seien, weil er in einem Waisenhaus wohne . Als er wahrheitsgemäß g e antwortet hatte, dass er es nicht wisse , lachte der Junge laut , zeigte mit dem Finger auf ihn und rief den anderen Kinder n zu: „ Sehr euch den an. S eine Eltern sind gar nicht tot. Die sind be s timmt bloß abgehauen, weil sie ihn los sein wol l ten.“
Am nächsten Morgen wurde er zum Direktor gerufen und erhielt eine Abmahnung. Er hatte dem Jungen das Nasenbein gebrochen. Seither wus s ten alle, dass sie sich vor ihm und seinem Jähzorn in A cht nehmen mussten, und mieden ihn.
Das änderte sich im Laufe der Zeit, denn Daniel war i n telligent , lernte leicht und du rfte aufs Gymnasium wechseln . Und weil er sich so ver z weifelt nach Anerkennung sehnte, ließ er seine Banknachbarn regelmäßig a b schreiben oder sagte ihnen vor. Er tat dies so geschickt, dass weder er noch seine Nutznießer jemals dabei e r wischt wurden . Seine Mitschüler rissen sich förmlich um das Vo r recht, in seiner Nähe sitzen zu dürfen. Er genoss es, im Mittelpunkt zu st e hen und bekam Tobsuchtsanfälle, wenn jemand ve r suchte, ihm seine Rolle streitig zu machen. Sein Jähzorn sprach sich schnell herum , und alle bemühten sich, ihn nicht herausz u fordern.
Mit achtzehn verführte er die Frau seines Mathemati k lehrers, die ihm dies dankte, indem sie ihrem Mann zwei Tage vor dem schriftlichen Abitur den Umschlag mit den Prüfungsaufgaben stahl und ihrem jungen Lie b haber für eine halbe Stunde überließ. Es kostete ihn eine halbe Nacht, die Lösungen mit kleinen unwesentlichen Fehlern zu präparieren und für die Prü f linge zu vervielfältigen.
Am Tag der Mathematikprüfung verging er fast vor Angst, dass einer seiner Mitschüler erwischt würde und alles ans Licht käme. Er war der Einzige, der – s chlotternd vor Angst – seinen Zettel mit den vorgeferti g ten Lösungen nicht nutzte, sondern die Au f gaben nacheinander löste und vor lauter Aufregung mehrere grobe Fehler dabei machte.
Als seine Gespielin ihm einige Zeit später den Laufpass gab, fand ihr Mann eines Tages einen anonymen Brief in seinem Briefkasten, der eine schwere Ehekrise im Lehre r hause zur Folge hatte.
Daniel gab sich einen Ruck und stand auf. Immer wenn ihn die Eri n nerungen überfielen, vergaß er die Zeit . Es war jetzt fast schon zu spät, um noch ins Kranke n haus zu fahren. Er tat es dennoch, erfuhr jedoch von der diensthabenden Stationsärztin, dass man Helen ein Schlafmittel geg e ben habe, weil sie tagsüber sehr unruhig g e wesen war , und sie bereits schlafe. Er war wütend und ballte die Fäuste in der Tasche , ließ sich aber vor der Ärztin äußerlich nichts a n merken. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als unve r richteter Dinge nach Hause zu fahren.
Die Ärztin, der sein Zorn nicht entgangen war, blickte ihm nachden k lich nach und nahm sich vor, noch einmal mit der Patientin zu sprechen , bevor sie am
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