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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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anzusehen. Das ist angeblich ein Indiz für ihre Sympathien, und es macht mir Mut, dass zwei der Afroamerikaner, die in derselben Gegend im North End wohnen, ihm kaum merklich zulächeln und nicken, als er sich setzt.
    Derweil nutzt Sandy den Tisch und eine stützende Hand von Marta, um langsam auf die Beine zu kommen. Heute ist der Ausschlag in seinem Gesicht definitiv nicht mehr ganz so rot.
    »Rusty, als Sie gestern Mr Moltos Fragen beantworteten, haben Sie ihn etliche Male daraufhingewiesen, dass er Sie bat, über verschiedene Punkte Vermutungen anzustellen, vor allem im Hinblick auf die Ursache des Todes Ihrer Frau. Erinnern Sie sich an diese Fragen?«
    »Einspruch«, sagt Molto. Die Zusammenfassung gefällt ihm nicht, aber Richter Yee lehnt den Einspruch ab.
    »Rusty, wissen Sie mit Sicherheit, wie Ihre Frau gestorben ist?«, fragt Stern.
    »Ich weiß, dass ich sie nicht getötet habe. Mehr nicht.«
    »Haben Sie sich die Zeugenaussagen angehört?«
    »Selbstverständlich.«
    »Dann wissen Sie, dass der Rechtsmediziner zunächst von einer natürlichen Todesursache ausging?«
    »Das ist mir bekannt.«
    »Und Sie und Mr Molto haben die Möglichkeit erörtert, dass Ihre Frau vor lauter Aufregung, weil Ihr Sohn und seine neue Freundin zum Dinner kamen, versehentlich eine Überdosis Phenelzin genommen hat.«
    »Ja.«
    »Sie haben zudem über die Möglichkeit gesprochen, dass sie eine normale Dosis Phenelzin eingenommen und dann irgendetwas gegessen oder getrunken hat, das eine tödliche Wechselwirkung mit Phenelzin auslöste.«
    »Richtig.«
    »Und wenn Sie über Mr Moltos Fragen nachdenken, Rusty, erscheint Ihnen da eine der Theorien zur Todesart Ihrer Frau - natürlicher Tod, versehentliche Überdosis oder Wechselwirkung des Phenelzins mit bestimmten Nahrungsmitteln - als völlig unvereinbar mit der Beweislage?«
    »Eigentlich nicht. Sie scheinen alle recht plausibel.«
    »Aber, Sir, haben Sie eine Mutmaßung, die auf der Beweislage basiert, eine Theorie, die Ihnen angesichts der vorliegenden Beweise am glaubhaftesten erscheint?«
    »Einspruch«, sagt Molto. »Der Zeuge ist nicht qualifiziert, hier eine sachverständige Meinung abzugeben.«
    Der Richter klopft mit einem Stift auf die Richterbank, während er nachdenkt.
    »Ist Theorie der Verteidigung?«, fragt er.
    »Wie sie sich uns darstellt, Euer Ehren, ja«, erwidert Stern. »Ohne andere Möglichkeiten ausschließen zu wollen, ist das die Theorie der Verteidigung, wie Mrs Sabich starb.«
    Angeklagte haben gemeinhin einen besonderen Spielraum, wenn sie Hypothesen ihrer Unschuld darlegen und die Beweise auf eine Weise erklären, die sie schuldlos dastehen lässt.
    »Meinetwegen«, sagt Yee. »Einspruch abgelehnt. Fahren Sie fort.«
    »Erinnern Sie sich an die Frage, Rusty?«, fragt Stern.
    »Selbstverständlich«, sagt mein Vater. Er lässt sich noch eine Sekunde Zeit, setzt sich gerader hin und sieht die Geschworenen direkt an, was er bislang noch nicht oft gemacht hat. »Ich glaube, dass sich meine Frau mit einer bewusst eingenommenen Überdosis Phenelzin selbst getötet hat.«
    Vor Gericht, so habe ich gelernt, lässt sich die Stärke eines Schocks am Geräusch messen. Manchmal löst eine Antwort das schwirrende Summen eines Bienenstocks aus. In anderen Augenblicken, wie auch in diesem, schlägt sich die Folgenschwere einer Erwiderung in der absoluten Stille nieder, die sich daraufhin einstellt. Jeder hier scheint ins Grübeln gekommen zu sein. Aber in mir setzt diese Antwort eine Furcht frei, die ich lange Zeit in die dunkelsten Winkel meines Herzens verbannt hatte. Der Wirkung läuft von außen nach innen, von der Brust über die Lunge in die Gliedmaßen. Und ich weiß mit einem unsäglichen Gefühl der Erleichterung, dass das die reine Wahrheit ist.
    »Der Polizei haben Sie das aber nicht gesagt«, sagt Sandy.
    »Damals wusste ich nur einen Bruchteil dessen, was ich heute weiß, Mr Stern.«
    »Ganz genau«, bestätigt Stern. Er hält sich mit einer Hand an der Ecke des Tisches fest und bewegt sich ein, zwei Schritte um diese Stütze herum. »Es gab keinen Abschiedsbrief, Rusty.«
    »Nein«, sagt er. »Ich glaube, Barbara wollte es so aussehen lassen, als wäre sie eines natürlichen Todes gestorben.«
    »Genau, wie der Rechtsmediziner zuerst befand«, sagt Stern.
    »Einspruch«, sagt Molto. Yee gibt dem Einspruch statt, aber schmunzelt insgeheim über Sandys Geschick.
    »Und warum könnte Mrs Sabich Ihrer Meinung nach den Wunsch gehabt haben, die Tatsache

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