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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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zu verschleiern, dass sie sich das Leben genommen hatte?«
    »Meinem Sohn zuliebe, glaube ich.«
    »Ihr Sohn, das ist dieser gut aussehende Bursche dort in der ersten Reihe, richtig?«
    »Richtig.« Mein Vater lächelt mich an, sodass die Geschworenen es sehen. In diesem Moment fühle ich mich nicht sonderlich exponiert, und ich schaffe es sogar, zurückzulächeln.
    »Und warum sollte Ihre Frau gewollt haben, dass Ihr Sohn nichts von ihrer Selbsttötung erfährt?«
    »Nat ist unser einziges Kind. Ich denke, mein Sohn würde selbst sagen, dass er eine nicht immer leichte Kindheit hatte. Heute ist er ein gestandener Mann, und er führt ein gutes Leben. Aber seine Mutter war ihm gegenüber immer ein wenig überbehütend. Ich bin sicher, Barbara hätte ihm möglichst viel Schmerz und Schuldgefühle ersparen wollen, falls sie ihrem Leben auf diese Weise ein Ende gesetzt hat.«
    Stern nickt nur stumm, als fände er das alles vollkommen einleuchtend. Ich jedenfalls tue das. In jeder Familie gibt es unausgesprochene Wahrheiten, und in unserer war eine davon, dass ich meine depressive Neigung von meiner Mutter habe. Und genau deshalb hätte meine Mutter mir verheimlichen wollen, dass sie unfähig war, den grausamen Gott zu zähmen. Es wäre eine zu düstere Prophezeiung für mich gewesen.
    »Hatte Ihre Frau, soweit Sie wissen, schon mal versucht, Suizid zu begehen?«
    »Aufgrund der Schwere ihrer Depression hatte Dr. Vollman mir geraten, immer die Augen aufzuhalten. Und ja, ich wusste von einem Versuch, den Barbara in den späten Achtzigerjahren unternahm, als wir getrennt lebten.«
    »Ich beantrage, die Antwort zu streichen«, sagt Molto. »Falls der Selbstmordversuch in der Zeit erfolgte, als sie getrennt lebten, kann Richter Sabich nur durch Hörensagen davon wissen.«
    »Stattgegeben«, sagt Yee.
    Stern nickt zuvorkommend und sagt: »Dann werden wir einen anderen Zeugen aufrufen müssen.«
    Molto steht wieder auf. »Selber Antrag, Euer Ehren. Das war keine Frage. Das war eine Regieanweisung.«
    »War das ein Einspruch, Euer Ehren, oder Literaturkritik?«, erwidert Stern.
    Yee, der durchaus Humor hat, grinst jetzt breit und zeigt seine kleinen Zähne. »Kinder, Kinder«, sagt er.
    »Ich ziehe die Frage zurück«, sagt Stern.
    Während dieses Intermezzos sind die Augen meines Vaters zu mir zurückgekehrt. Jetzt weiß ich, wofür er sich gestern entschuldigte. Der Umzug nach Detroit, als ich zehn Jahre alt war, machte meine Mutter nicht glücklicher, was immer sie sich davon versprochen hatte. Ich spürte, wie Kinder so was immer spüren, dass irgendetwas furchtbar falsch war. Ich hatte oft Albträume, aus denen ich in meinem zerwühlten Bett mit rasendem Herzen erwachte, um nach meiner Mutter zu schreien. Manchmal kam sie. Manchmal musste ich aufstehen, um sie zu suchen. Fast immer saß sie in ihrem dunklen Schlafzimmer, so in sich gekehrt, dass sie mich erst bemerkte, wenn ich direkt vor ihr stand. Immer häufiger wachte ich einfach nur auf, um nach ihr zu sehen. Eines Nachts konnte ich sie nicht finden. Ich ging von Raum zu Raum und schrie ihren Namen, bis mir das Badezimmer einfiel. Dort war sie, in der gefüllten Wanne. Ich war nicht mehr daran gewöhnt, meine Mutter nackt zu sehen. Aber das schockierte mich weit weniger als die Tatsache, dass sie eine kleine Lampe in der Hand hielt, die mithilfe eines Verlängerungskabels an der gegenüberliegenden Wand eingestöpselt war.
    Ich würde sagen, dass ich gefühlt eine Minute lang dastand. Bestimmt waren es in Wahrheit nur ein paar Sekunden, aber sie wartete viel zu lange, bis sie zu mir zurückkehrte, zurück ins Leben.
    »Alles in Ordnung«, sagte sie dann. »Ich wollte lesen.«
    »Nein, ist es nicht«, sagte ich.
    »Alles in Ordnung«, sagte sie. »Ich wollte lesen, Nat.«
    Ich weinte, außer mir vor Verzweiflung. Sie stand auf, um mich nackt zu umarmen, aber ich war so geistesgegenwärtig, schnurstracks zum Telefon zu gehen und meinen Dad anzurufen. Wenige Tage später wurde bei meiner Mom eine bipolare Störung diagnostiziert. Ab da begann der Weg zurück zu meinem Dad, zu unserer Familie, zu unserem früheren Leben. Doch jener Moment schwebte wie ein Gespenst den Rest ihres Lebens über meiner Mom und mir, wenn wir zusammen waren.
    »Haben Sie und Ihre Frau je darüber gesprochen, dass sie selbstmordgefährdet war?«
    »Einspruch«, sagte Molto. »Hörensagen.«
    »Haben Sie und Ihre Frau je darüber gesprochen, ob sie Suizid begehen könnte?«
    Auf der anderen Seite

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