Der letzte Beweis
aber eine zulässige Möglichkeit für die Anklagevertretung in einem Strafverfahren, weil sie nach einem Freispruch keine Berufung mehr einlegen konnte. Brand hatte recht - es würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, weil sie sonst bei den Geschworenen kaum noch eine Chance hätten. Und vielleicht würde Yee ja auch nachgeben, wenn sie ihm das in Aussicht stellten. Schließlich war er ungemein stolz darauf, dass seine Urteile so gut wie nie aufgehoben wurden. Außerdem würde dem Richter davor grauen, die Geschworenen - und sich selbst - zwei oder drei Wochen lang in Bereitschaft halten zu müssen, denn so lange würde das Berufungsverfahren mit Sicherheit dauern.
»Was für ein Schlamassel«, sagte Tommy.
»Wenn wir erreichen, dass die Beweise zugelassen werden, sind wir aus dem Schneider. Rory hat zwei Ermittler losgeschickt, die jetzt mit der Nachtschicht des Sicherheitsdienstes im Gerichtsgebäude reden. Bestimmt hat einer irgendwas gesehen oder gehört, wie Rusty reingekommen ist. Wenn wir einen guten Zeugen liefern, können wir Yee umstimmen.«
Vielleicht hatte Jim recht. Doch Tommy wurde von Schamgefühl gepeinigt. Er war immer viel zu streng mit sich selbst. Er hatte keine Beweise verfälscht, bloß eine Information ausgeplaudert. Aber es war falsch gewesen. Er hatte sich falsch verhalten. Und Sandy Stern wollte alle Welt daran erinnern.
»Ich muss mal«, sagte er zu Brand.
Als er die Toilette betrat, stand Rusty Sabich an einem der Urinale. Zwischen den eisweißen Becken gab es keinen Sichtschutz, und Tommy starrte stur geradeaus auf die Wandkacheln. Er hörte, dass Rusty Probleme hatte, hörte den zögerlichen Strahl und das Tröpfeln beginnen. Was das anging, war Tommy noch immer ein Jüngling. Dieser Vorteil verlieh ihm irgendwie Mut.
»Das war unter der Gürtellinie, Rusty.« Er wiederholte Brands Spruch mit den Walen.
Rusty antwortete nicht. Molto spürte, wie Sabichs Schultern sich bewegten, als er den Reißverschluss seiner Hose hochzog. Gleich darauf lief Wasser ins Waschbecken. Als Tommy sich umwandte, war Rusty noch da und trocknete sich die Hände mit einem braunen Papierhandtuch ab. Sein erschlaffendes Gesicht war unergründlich, und die hellen Augen reglos.
»Es war unter der Gürtellinie, Tommy. Und so kenne ich Sandy offen gestanden auch nicht. Ich hatte keine Ahnung, dass er davon anfangen würde. Wenn er vorher mit mir darüber gesprochen hätte, hätte ich Nein gesagt. Ehrenwort.«
Die Entschuldigung, das Eingeständnis, dass Stern sich danebenbenommen hatte, belastete Tommy nur noch mehr. Am meisten störte ihn das, was er in den Gesichtern seiner Mitarbeiter und der Richter sehen würde. Sobald der Prozess vorüber war, würde er eine Stellungnahme abgeben müssen, wahrscheinlich sogar die Akte öffentlich machen. Und er würde sagen müssen: Ich habe gegen die Vorschriften verstoßen, es war eine kleine Übertretung, aber ich habe dafür bezahlt und meine Lektion gelernt. Sabich betrachtete ihn, während ihm all das durch den Kopf ging. So sind Prozesse nun mal, dachte Tommy. Man öffnet Blutgefäße auf beiden Seiten. Mediziner sagten, es sei besser, Arzt zu sein als Patient, und es war besser, Ankläger zu sein als Angeklagter. Aber das hieß nicht, dass nicht auch andere verletzt wurden. Diese Lektion hätte er schon beim ersten Mal lernen sollen, als er mit dem Mann aneinandergeriet. Sich mit Rusty anzulegen bedeutete, durch Stacheldraht zu kriechen.
»Tommy«, sagte Rusty, »haben Sie je die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass ich nicht so schlimm bin, wie Sie denken, und Sie nicht so schlimm sind, wie ich denke?«
»Damit wollen Sie wohl sagen, Sie sind ein Engel.«
»Ich bin kein Engel. Aber ich bin auch kein Mörder. Barbara hat sich umgebracht, Tommy.«
»Das behaupten Sie. Und hat Carolyn sich selbst vergewaltigt und erschlagen?«
»Auch das war ich nicht. Wenden Sie sich an den wahren Täter.«
»Bloß jammerschade, Rusty, dass andauernd Frauen in Ihrer Umgebung wegsterben.«
»Ich bin kein kaltblütiger Mörder, Tommy. Das wissen Sie. Im tiefsten Innern wissen Sie das.«
Tommy begann, sich die Hände abzutrocknen. »Was sind Sie dann, Rusty?«
Sabich schnaubte leicht, lachte kurz in sich hinein. »Ich bin ein Narr, Tommy. Ich habe viele Fehler gemacht, und es wird lange dauern, bis ich Ihnen sagen kann, welcher der schlimmste war. Eitelkeit. Lust. Die Vermessenheit, zu glauben, ich könnte etwas ändern, was nicht zu ändern war. Ich will nicht
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