Der letzte Beweis
ihren Namen wiederhole. Sie steigt aus dem Bett und tigert mit geballten Fäusten auf und ab wie ein Boxer im Ring, doch statt zuzuschlagen, schleudert sie mir Beschimpfungen entgegen. Ich bin rücksichtslos, kalt, egozentrisch und gleichgültig ihr gegenüber. Nach einer Weile gehe ich zum Arzneischrank und hole das Stelazin. Ich halte ihr die Tablette hin und warte ab, ob sie sie nehmen wird, ehe sie in die letzte destruktive Phase kommt, in der sie irgendetwas zerstören wird, was mir mehr oder weniger wichtig ist. In der Vergangenheit hat sie vor meinen Augen die Buchstützen aus Kristallglas zerschmettert, die ich von der Anwaltskammer bei meiner Ernennung zum leitenden Richter bekommen hatte; sie hat mit dem Feuerzeug, mit dem wir den Grill anzünden, meine Smokinghose in Brand gesteckt, und sie hat zwei kubanische Zigarren, die ich von Richter Doyle bekommen hatte, in die Toilette geworfen. Diesmal schnappt sie sich die Schachtel, die George mir überreicht hat, holt mein Geschenk heraus und schneidet vor meinen Augen die Epauletten von den Schultern der Robe.
»Barbara!«, schreie ich, stehe aber nicht auf, um sie daran zu hindern. Mein Ausbruch oder das, was sie da getan hat, genügt, um sie ein wenig zur Besinnung zu bringen, und sie grapscht die Tablette von ihrem Nachttisch und schluckt sie runter. In einer halben Stunde wird sie im sedierten Koma liegen und den morgigen Tag fast komplett durchschlafen. Es wird keine Entschuldigung geben. In ein oder zwei Tagen werden wir wieder da sein, wo wir waren. Distanziert. Zurückhaltend. Getrennt. Mit Monaten Frieden vor uns bis zum nächsten Ausbruch.
Ich gehe in mein Arbeitszimmer, wo ein Sofa steht. Dahinter liegt für solche Anlässe wie diesen hier Bettzeug bereit. Barbaras Wutanfälle erschüttern mich jedes Mal, denn früher oder später starre ich durch einen Zeittunnel zurück auf das Verbrechen vor einundzwanzig Jahren und frage mich, welcher Irrsinn mich glauben ließ, dass wir zusammenbleiben könnten.
Ich habe Scotch in der Küche. Als ich Anwalt wurde, konnte ich mit Hochprozentigem nichts anfangen. Heutzutage trinke ich zu viel, selten im Übermaß, aber ich gehe so gut wie nie zu Bett, ohne mich zuvor mit Alkohol zu betäuben. Auf dem Klo entleere ich meine Blase und erstarre dort. Zu gewissen Zeiten im Jahr scheint der Mond direkt durch das Oberlicht im Bad. Während ich in dem magischen Glanz stehe, kehrt die Erinnerung an Annas körperliche Präsenz zurück, wirkungsvoll wie die Melodie eines Lieblingsliedes. Mir fällt die Bemerkung meiner Frau ein, dass ich Schwierigkeiten habe, mir zu nehmen, was ich haben will, und fast wie zur Strafe gebe ich mich dem Gefühl hin, nicht bloß dem Film von Anna und mir in enger Umarmung, sondern dem wohligen Rausch, aus dieser Selbstbeschränkung zu entfliehen, die seit Jahrzehnten mein Leben prägt.
Ich verweile dort, bis ich nach einiger Zeit in die Gegenwart zurückkehre, bis mein Verstand meine Sinne ablöst und mit einer anwaltlichen Vernehmung meiner selbst beginnt. In der Unabhängigkeitserklärung steht, dass wir das Recht haben, nach Glück zu streben - aber nicht, es zu finden. In Darfur sterben Kinder. In Amerika suchen Menschen verzweifelt nach Arbeit. Ich habe Macht, eine sinnvolle Arbeit, einen Sohn, der mich liebt, drei anständige Mahlzeiten am Tag und ein klimatisiertes Haus. Wieso sollte ich Anspruch auf mehr haben?
Ich gehe zurück in die Küche, um mir noch einen Scotch einzugießen, und mache mir dann mein Bett auf dem Ledersofa. Der Alkohol hat seine Wirkung getan, und ich gleite in den Staub des Schlafes. So endet der Tag zur Feier meiner sechzig Jahre auf Erden mit der sinnlichen Erinnerung an Annas Lippen, die meine streifen, und damit, dass mein Gehirn die ewigen Fragen durchkaut: Kann ich je glücklich sein? Kann ich mich wirklich zum Sterben hinlegen, ohne je versucht zu haben, es herauszufinden?
Die Rolle von Richter und Referendar ist im heutigen Berufsleben ziemlich einmalig, da Referendare im Grunde noch in der Ausbildung sind. Wenn sie zu mir kommen, sind sie zwar im Studium hervorragend geschult worden, aber noch ungeformt, und ich bringe ihnen dann zwei Jahre lang nichts Geringeres bei als die logische Auslegung von Recht und Gesetz. Vor fünfunddreißig Jahren war ich selbst Referendar bei Philip Goldenstein, dem leitenden Richter des Obersten Bundesstaatsgerichts. Wie die meisten Referendare verehre ich meinen Richter noch heute. Phil Goldenstein war jemand,
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