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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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noch immer etwas von den 1960er Jahren, daher hat sie ihre natürlichen Locken ungetönt ergrauen lassen und trägt trotz der Blässe des Alters so gut wie nie Make-up. Aber sie ist und bleibt eine Schönheit mit feinen Gesichtszügen. Sie trainiert fünfmal die Woche zwei Stunden lang an den Fitnessgeräten in unserem Keller, eine Gewohnheit, die gut gegen ihre Herzprobleme und den Bluthochdruck ist, der bei ihr in der Familie liegt, und ihr zugleich die mädchenhafte Figur bewahrt. Wenn ich mit ihr einen Raum betrete, empfinde ich stets einen gewissen männlichen Stolz in mir aufwallen, der daher rührt, eine attraktive Frau zu begleiten, und ich genieße immer noch ihren Anblick im Bett, in dem wir zwei- oder dreimal die Woche miteinander schlafen. Wir erinnern uns. Wir verschmelzen. Die meiste Zeit ist es prosaisch, aber das trifft auf viele der besten Augenblicke im Leben zu, mit der Familie am Tisch, mit Freunden an der Bar.
    Aber damit wird es heute Abend nichts. Sobald ich im Schlafzimmer bin, wird mir klar, dass Barbara aus einem ganz anderen Grund auf mich gewartet hat, als ich dachte. Wenn sie aufgebracht ist, wird ihr Gesicht stählern - das Kinn, die Augen -, und im Augenblick ist es pures Eisen.
    Ich stelle die einfache und doch ewig gefährliche Frage: »Hast du was?«
    Sie schmollt unter der Decke. »Ich finde einfach, du hättest vorher mit mir reden können«, sagt sie. Die Bemerkung ist unverständlich, bis sie hinzufügt: »Über Koll.«
    Mir klappt richtiggehend der Unterkiefer runter. »Koll?«
    »Denkst du denn, ich bin nicht auch davon betroffen? Rusty, du hast beschlossen, mir einen monatelangen Wahlkampf zuzumuten, ohne vorher mit mir darüber zu reden. Denkst du denn, ich könnte dann noch nach dem Training in den Supermarkt gehen, wenn mir die Haare im Gesicht kleben und ich rieche wie eine Sportsocke?«
    In Wahrheit bestellt Barbara fast all unsere Lebensmittel online, aber ich übergehe diese Spitzfindigkeit und frage einfach, warum nicht.
    »Weil mein Mann dann stinksauer wäre. Erst recht, wenn mir dann irgendwer ein Mikrofon unter die Nase hält. Oder ein Foto macht.«
    »Kein Mensch wird dich fotografieren, Barbara.«
    »Wenn deine Werbespots im Fernsehen laufen, werden mich alle beobachten. Die Frau eines Kandidaten für das Oberste Bundesstaatsgericht? Das ist dasselbe wie Ministergattin. Mit dir als Chefrichter ist es schon schlimm genug. Aber jetzt muss ich die Rolle ernsthaft spielen.«
    Diese diffuse Paranoia ist ihr einfach nicht auszureden; ich versuche das schon seit Jahrzehnten. Stattdessen stutze ich über ihre Formulierung, sie müsse eine Rolle spielen. Wir kommen nicht oft an diesen Punkt, wo die Bedingungen, unter denen unsere Ehe fortgeführt wurde, ans Licht gezerrt werden. Uns beiden ging es vor allem um Nat. Davon abgesehen konnte ich mein Leben so gut es ging neu gestalten, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen. Aber da ich diese Anordnung als moralisch richtig akzeptiere, denke ich selten daran, wie Barbara sie empfinden muss - eine nie endende Buße als drogengesteuertes Hausmütterchen von Stepford.
    »Es tut mir leid«, sage ich. »Du hast recht. Ich hätte das mit dir besprechen sollen.«
    »Aber du hast es keine Sekunde in Erwägung gezogen, nicht wahr?«
    »Ich hab mich gerade entschuldigt, Barbara.«
    »Nein, ganz egal, was es für mich bedeutet, du hast wirklich nicht in Erwägung gezogen, N.J. Chefrichter werden zu lassen.«
    »Barbara, ich kann bei beruflichen Entscheidungen keine Rücksicht darauf nehmen, ob meine Frau« - ich suche sichtlich nach dem passenden Wort, und wir beide wissen, welche ich verworfen habe: psychisch labil, manisch-depressiv, verrückt - »öffentlichkeitsscheu ist oder nicht. N.J. hätte dem Gericht als Chef enorm geschadet. Ich habe mein eigenes Interesse zurückgestellt. Da kann ich deines wohl schlecht höher gewichten.«
    »Weil du Rusty der Musterknabe bist. Sankt Rusty. Du musst immer erst einen Hindernislauf hinter dich bringen, ehe du dir nimmst, was du haben willst. Das macht mich krank.«
    Du bist krank, hätte ich beinahe erwidert. Aber ich bremse mich. Ich bremse mich immer. Sie wird jetzt anfangen zu toben, und ich werde es einfach hinnehmen und im Kopf mein Mantra abspulen: Sie ist verrückt, du weißt, dass sie verrückt ist, lass sie verrückt sein.
    Und genau so kommt es. Mit jeder Minute steigert sie sich in eine größere Wut hinein. Ich setze mich hin und sage so gut wie nichts, außer dass ich dann und wann

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