Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
Vom Netzwerk:
den sein leidenschaftlicher Glaube an die Menschheit in den Staatsdienst trieb. Er war davon überzeugt, dass in jeder Seele das Gute schlummerte und dass seine Aufgabe als Politiker oder Richter lediglich darin bestand, dieses Gute hervorzulocken. Das ist der sentimentale Glaube einer vergangenen Ära und ganz sicher keiner, den ich mir selbst je zu eigen machte, wenn ich ganz offen sein will. Aber mein Referendariat war trotzdem eine wunderbare Erfahrung, weil Phil der Erste war, der mir eine große Zukunft als Anwalt prophezeite. Ich betrachtete die Juristerei als einen Palast des Lichts, deren Strahlkraft die schäbige und kleinliche Dunkelheit im Haus meiner Eltern vertreiben würde. In dieses Reich eingelassen zu werden bedeutete gleichsam, dass meine Seele die engen Grenzen überwunden hatte, die ihr, wie ich immer gefürchtet hatte, eigentlich zukamen.
    Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, bei meinen Referendaren dem großherzigen Beispiel des Richters nachzueifern. Mein Vater lieferte mir nie ein Vorbild für sanfte Autorität, und wahrscheinlich ziehe ich mich zu häufig zurück und wirke übereifrig und von mir selbst eingenommen. Aber die Referendare eines Richters sind seine juristischen Erben, und ich fühle mich vielen von ihnen besonders verbunden. Die sieben ehemaligen Referendare, die am Freitagabend zu Annas Abschiedsparty gekommen sind, zählen zu meinen Favoriten, und alle haben in ihrem Beruf beachtliche Erfolge vorzuweisen. Zusammen mit meinen übrigen Mitarbeitern sitzen wir in lustiger Runde zu insgesamt fünfzehn Personen an einem Tisch in einem schummrigen Hinterzimmer im Matchbook. Wir alle trinken zu viel Wein und ziehen Anna freundlich auf, witzeln über ihre dauernden Abspeckversuche, ihre Klagen über das Singledasein, ihr gelegentliches heimliches Rauchen und darüber, dass an ihr selbst ein schickes Kostüm salopp wirkt. Einer hat ihr Pantoffeln fürs Büro gekauft.
    Als die Party vorbei ist, fährt Anna mich wie geplant zurück zum Gericht. Ich will meinen Aktenkoffer holen, und sie will ihre letzten Habseligkeiten einpacken und mich dann an der Haltestelle für den Bus nach Nearing absetzen. Doch wie sich herausstellt, haben wir uns gegenseitig ein kleines Geschenk gekauft. Ich setze mich auf mein altes Sofa, dessen rissiges Leder mich unweigerlich ein wenig an mein Gesicht erinnert, und öffne die Schachtel. Zum Vorschein kommt eine Waage der Justitia im Miniaturformat, in die Anna einen Text hat eingravieren lassen: »Für den Chef - in ewiger Liebe und Dankbarkeit, Anna.«
    »Sehr hübsch«, sage ich, und dann setzt sie sich neben mich, um das kleine Päckchen zu öffnen, das ich ihr geschenkt habe.
    Distanz. Nähe. Diese Worte sind nicht bloß Metaphern. Wenn wir mit einem Menschen, dem wir uns verbunden fühlen, auf der Straße unterwegs sind, gehen wir näher neben ihm her. Und in den letzten Monaten von Annas Referendariat hat sich die professionelle Distanz zwischen uns praktisch aufgelöst. Wenn wir einen Fahrstuhl betreten, stellt sie sich unweigerlich dicht vor mich. »Hoppla«, sagt sie dann, schiebt ihr Gesäß an mich heran und blickt lachend über die Schulter. Und natürlich setzt sie sich jetzt so nah neben mich, dass unsere Oberschenkel und Schultern sich berühren, kein Angström mehr zwischen uns. Der Anblick meines Geschenks - ein Stifteset für ihren Schreibtisch und eine Karte, auf der ich an Phil Goldenstein erinnere und ihr eine große Zukunft voraussage - rührt sie zu Tränen. »Sie bedeuten mir so viel, Euer Ehren«, sagt sie.
    Und dann drückt sie ihren Kopf an meine Brust, als hätte das nichts zu bedeuten, und ich lege schließlich einen Arm um sie. Wir sagen nichts, minutenlang kein Wort, aber wir bleiben in dieser Position, meine Hand umfasst ihre feste Schulter, und ihr feines Haar, das angenehm nach Shampoo duftet, liegt genau über meinem Herz. Was hier debattiert wird, muss nicht ausgesprochen werden. Sehnsucht und Zuneigung sind mächtig. Doch Gefahren und Sinnlosigkeit liegen auf der Hand. Wir sind aneinandergeschmiegt, versuchen jeder für sich zu bestimmen, welcher Verlust schlimmer wäre - weiterzumachen oder sich abzuwenden. Ich weiß noch immer nicht, was passieren wird. Doch in diesem Moment wird mir eines klar: Ich habe mir selbst monatelang etwas vorgemacht. Weil ich nämlich absolut gewillt bin.
    Und so sitze ich da und denke: Wird es passieren, wird es tatsächlich passieren, wie ist das möglich, wie nicht, wie ist das möglich?

Weitere Kostenlose Bücher