Der letzte Beweis
Es ist wie der Moment, in dem der Sprecher der Geschworenen mit dem zusammengefalteten Urteilsformular in der Hand dasteht. Das Leben wird sich verändern. Das Leben wird anders sein. Die Worte können gar nicht schnell genug gesprochen werden.
In den Momenten, die ich mich dieser Fantasie hingab, habe ich mir selbst versprochen, allein ihr die Entscheidung zu überlassen. Ich werde nicht darum bitten oder irgendwelche Avancen machen. Daher halte ich sie jetzt umschlungen, mache aber sonst nichts. Natürlich erregt mich das Gefühl ihres festen Körpers, aber ich warte nur, und die Zeit verstreicht und verstreicht, vielleicht insgesamt zwanzig Minuten, bis ich endlich spüre, wie sie in meiner Armbeuge das Gesicht zu mir hochdreht und ihr warmer Atem meinen Hals streift. Jetzt wartet sie. Bereit. Ich spüre sie dort. Ich denke nicht: Nein, oder auch nur: Moment. Mein einziger Gedanke ist: Nie wieder. Wenn nicht jetzt, dann nie wieder. Nie wieder die Gelegenheit, den elementarsten Rausch zuzulassen, den das Leben bietet.
Und so sehe ich zu ihr hinunter. Unsere Lippen berühren sich, unsere Zungen. Ich stöhne laut auf, und sie flüstert: »Rusty, oh, Rusty.« Ich entdecke die köstliche Weichheit der Brüste, die ich mir tausendmal in meiner Hand vorgestellt habe. Sie löst sich von mir, um mich anzusehen, und ich betrachte sie, schön, ruhig und ohne die geringsten Bedenken. Und dann spricht sie die Worte aus, die meine Seele erheben. Diese mutige, hinreißende junge Frau sagt: »Küss mich noch mal.«
Hinterher fährt sie mich zum Bus und biegt kurz vor der Haltestelle in eine Seitenstraße, damit wir uns zum Abschied küssen können.
ICH!, schreit mein Herz, Chefrichter Sabich, knutsche wie ein Siebzehnjähriger im Schatten knapp außerhalb des Lichtkegels, den die Straßenlampe wirft.
»Wann seh ich dich wieder?«, fragt sie.
»Ach, Anna.«
»Bitte«, sagt sie. »Nicht bloß das eine Mal. Ich würde mich so nuttig fühlen.« Sie hält inne. »Nuttiger.«
Ich weiß, es wird nie einen süßeren Augenblick geben als den, den wir gerade miteinander erlebt haben. Weniger unbeholfene, aber nie beglückendere.
»Alle Affären gehen schlecht aus«, sage ich. Dafür bin ich vielleicht der krasseste Beweis, den es gibt. Wegen Mordes angeklagt. »Daran sollten wir beide denken.«
»Das haben wir doch beide«, entgegnet sie. »Monatelang habe ich gesehen, wie du nachgedacht hast, wenn du mich angeschaut hast. Bitte. Und wenn wir uns nur unterhalten?«
Wir wissen beide, dass die einzigen Unterhaltungen zwischendurch stattfinden werden, aber ich nicke und steige dann aus, nachdem ich sie noch einmal leidenschaftlich geküsst habe. Ihr Auto, ein betagter Subaru, fährt mit dem röchelnden Lärm eines kaputten Auspuffs davon. Ich gehe langsam zum Bus. Wie, schreit mein Herz, wie kannst du das bloß wieder tun? Wie kann ein Mensch denselben Fehler noch einmal begehen, der ihm fast das Leben zerstört hat? Wohl wissend, wie wahrscheinlich eine weitere Katastrophe ist? Diese Fragen stelle ich mir mit jedem Schritt. Aber die Antwort ist immer dieselbe: weil das, was zwischen damals und heute liegt - weil diese Zeit es nicht richtig verdient hat, Leben genannt zu werden.
Rustys Geburtstag 19.03.2007 - Barbaras Tod 29.09.2008 - Die Wahl 04.11.2008
Kapitel 6
Tommy, 13. Oktober 2008
Tim Brand bewarb sich mit einem nicht gerade berauschenden Examenszeugnis bei der Staatsanwaltschaft und erhielt eine Standardabsage. Aber dann erschien er einfach persönlich und bettelte am Empfang um ein Vorstellungsgespräch. Das imponierte Tommy, der zufällig vorbeikam. Tommy war es, der Brand beim Einstellungskomitee durchpaukte, der ihm beibrachte, wie man einen anständigen Schriftsatz verfasste, der Jim bei einer Reihe von wichtigen Fällen als zweiten Anwalt einsetzte. Und im Laufe der Zeit bewährte sich Brand. Er hatte ein natürliches Gespür für den Gerichtssaal, die Instinkte eines Footballspielers, der spürt, wann ihm ein Überraschungsangriff droht. Verteidiger beschwerten sich über seinen rotzigen Stil, aber das taten sie auch bei Tommy.
Doch anders als die meisten Menschen, denen man einen Gefallen tut, vergaß Jim Brand nie, in wessen Schuld er stand. Tommy war sein großer Bruder. Sie waren gegenseitig Trauzeugen auf ihren Hochzeiten. Und auch jetzt noch machten Tommy und Brand mindestens einmal im Monat zusammen Mittagspause, und zwar sowohl, um ihre Freundschaft zu pflegen, als auch, um über die
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