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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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miteinander. Ich rufe sie nur von der Arbeit aus an, weil die Handyrechnungen, die zu mir nach Hause geschickt werden, die Gespräche einzeln auflisten. Wenn ich im Richterzimmer allein bin, wähle ich Annas Privatnummer in der Kanzlei oder aber sie ruft meine direkte Durchwahl an. Die Gespräche sind gedämpft, immer zu schnell vorüber, eine seltsame Mischung aus Banalitäten und Beteuerungen des Begehrens. »Guerner hat mir eine Riesenakte auf den Schreibtisch geknallt. Ich muss das Wochenende durcharbeiten.«
    »Du fehlst mir.«
    »Ich hab Sehnsucht.«
    Eines Tages fragt mich Anna am Telefon: »Was ist eigentlich aus dem Fall Harnason geworden?« Annas letzte offizielle Aufgabe als Referendarin bestand darin, meinen Widerspruch aufzusetzen, und der Fall beschäftigt sie noch immer, zusammen mit etlichen anderen, an denen sie gearbeitet hat. Ich hab Harnason schon fast vergessen, wie so vieles andere in meinem Leben, aber nachdem ich aufgelegt habe, bitte ich Kumari zu mir. Als Reaktion auf meinen Widerspruch hat George galant von einem Recht Gebrauch gemacht, das jedem Richter an meinem Gericht zusteht: Er hat Marvinas beherzte Urteilsbegründung zusammen mit meinem Entwurf an sämtliche Gremien geschickt und angefragt, ob der Fall eine gesamtrichterliche Prüfung erforderlich mache, bei der alle achtzehn Richter über den Fall entscheiden würden. Etliche meiner Kollegen, die ihren Chef nicht verärgern wollten, haben sich auf die diplomatische Methode verlegt, gar nicht zu antworten. Ich setze eine Einwochenfrist und bekomme ordentlich einen auf den Deckel: 13 zu 5 - Marvina, George und mich inbegriffen - sprechen sich dafür aus, das Urteil zu bestätigen. Damit ist praktisch garantiert, dass das Oberste Gericht es ablehnen wird, den Fall überhaupt anzuhören, und zwar mit der Begründung, dass dreizehn Richter sich nicht irren können. Im Vollgefühl ihres Triumphs bittet Marvina, die Urteilsbegründung noch einmal zu überarbeiten, aber John Harnason wird in weniger als einem Monat in die Strafanstalt zurückkehren.
     
    Meine Gedanken sind fast ebenso oft bei Barbara wie bei Anna. Zu Hause bin ich vollkommen unverdächtig. An den Abenden, ehe Anna und ich uns wieder treffen, studiere ich meine nackte Gestalt unter dem grellen Licht im Bad. Ich bin alt, dicklich, bauchig. Ich trimme meine Schamhaare mit einem Nasenhaarentferner, beseitige die langen widerborstigen grauen Spiralen. Ich sollte befürchten, dass Barbara irgendetwas merkt, doch sie äußert sich weder zu meinen Friseurbesuchen noch zu dem üblen Rasurbrand. Nach sechsunddreißig Jahren nimmt sie eher meine Anwesenheit zur Kenntnis als meinen Körper.
    Vor Jahrzehnten, während meiner Affäre mit Carolyn, war ich schrecklich gereizt. Aber durch Anna bin ich Barbara gegenüber verständnisvoller und geduldiger geworden. Meine Flucht in die Lust hat das Vorratslager an bitterem Groll geleert, den ich noch immer hege. Was nicht heißen soll, dass es leicht ist, die Täuschung aufrechtzuerhalten. Sie unterminiert jeden Moment zu Hause. Den Müll rausbringen oder miteinander schlafen, was ich nicht immer vermeiden kann, dergleichen scheint von einem zweiten Ich gespielt zu werden. Die Unaufrichtigkeit liegt nicht nur darin, wo ich war, oder in den Höhepunkten meines Tages. Die Lüge bezieht sich darauf, wer ich in meinem tiefsten Innern wirklich bin.
    Mein unmöglicher Wunsch, zwei Frauen gegenüber loyal zu sein, führt mich wiederholt auf die höchsten Gipfel der Absurdität. So bestehe ich beispielsweise darauf, Anna das Geld für die Hotelzimmer in bar zu erstatten. Sie lacht darüber — ihr Gehalt ist höher als meins, und jetzt, da sie im Vergleich zu ihrem Referendariat vierhundert Prozent mehr verdient, hat sie das Gefühl, in Geld zu schwimmen -, doch meine altmodische Ritterlichkeit, wenn man das so nennen will, entrüstet sich bei der Vorstellung, dass ich mit einer Frau schlafe, die sechsundzwanzig Jahre jünger ist als ich, und sie auch noch für das Vergnügen bezahlen lasse.
    Aber das Geld aufzubringen gestaltet sich schwieriger, als ich zunächst dachte. Barbara ist bei uns für die Finanzen zuständig, und als promovierte Mathematikerin betrachtet sie Zahlen als die wichtigsten Bezugspunkte im Leben. Sie könnte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, die exakte Höhe der Stromrechnung vom letzten Juni nennen. Ein paar zusätzliche Abhebungen am Geldautomaten könnte ich vielleicht mit Verlusten beim Pokerspiel mit den anderen

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