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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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anderen Hinsicht für intelligent und erfrischend vernünftig halte, dass sie sich für jemanden interessiert, der fast doppelt so alt ist wie sie und obendrein verheiratet? Ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass sie sich auch dann zu mir hingezogen fühlen würde, wenn mich nicht jeder Anwalt, Richter und Speichellecker ehrerbietig grüßen würde, sobald ich das Hauptjustizgebäude betrete. Aber was bedeutet es ihr, dass sie mit dem Chefrichter schläft? Irgendetwas. Keine Frage. Wahrscheinlich werde ich den geheimen Teil von ihr, von dem sie hofft, dass ich ihn ausfüllen könnte, nie verstehen. Bin ich so, wie sie selbst als Juristin einmal werden möchte? Oder so, wie sie sich ihren Vater gewünscht hätte? Oder der Mann, der sie in ihren geheimen Träumen sein will? Ich weiß es nicht - und sie vermutlich auch nicht. Ich spüre nur, dass sie ein Bedürfnis nach größtmöglicher Nähe hat, denn was auch immer sie sucht, es kann nur Haut auf Haut absorbiert werden.
    Eines hatte ich vergessen. Ich hatte vergessen, dass eine Affäre eine ständige Qual bedeutet - wie sehr du leidest. Unter der Verlogenheit zu Hause. Unter der Angst vor Entdeckung. Unter der Gewissheit, wie schmerzhaft das unausweichliche Ende sein wird. Unter der Ungeduld des Wartens auf das nächste Mal. Unter der Tatsache, dass ich nur alle paar Tage wenige Stunden lang in einem Hotelzimmer wirklich ich selbst bin, wenn diese süßen Augenblicke, die dem Himmel so nahe kommen, wie es uns auf Erden möglich ist, scheinbar all die anderen Ängste aufwiegen.
    Nachts schlafe ich nur selten durch und stehe oft um drei oder vier Uhr morgens auf, trinke einen Brandy. Ich erkläre Barbara, es liegt an der Arbeit und an dem Wahlkampf, der mich nervös macht. Ich sitze im Dunkeln und verhandele mit mir selbst. Ich werde Anna noch zweimal treffen. Dann ist Schluss. Aber wenn ich die Sache sowieso beenden werde, warum dann nicht sofort? Weil ich es nicht kann. Weil der Tag, an dem ich sie aufgebe, der Tag ist, an dem ich akzeptiere, dass es nie wieder passieren wird. Dass ich, kurz gesagt, begonnen habe zu sterben.
     
    Trotz ständiger Vorsichtsmaßnahmen merke ich, dass ich doch zunehmend nachlässig werde, was die Gefahren betrifft. Sie sind allgegenwärtig, aber wenn man zweimal davongekommen ist, dann viermal, dann fünfmal, gehört das Spiel mit dem Risiko irgendwann zu dem besonderen Kitzel dazu. Eines Tages, als Anna und ich im Gresham verabredet sind, sieht mich Marco Cantu - ein ehemaliger Cop, den ich aus der Zeit kenne, als er noch auf Streife war -, wie ich offenbar gelangweilt in der Lobby sitze, und er kommt herüber, um mir Guten Tag zu sagen. Ich weiß, dass er jetzt Sicherheitschef des Hotels ist. Die Art, wie ich ihm erkläre, dass ich mit einem Bekannten zum Lunch verabredet bin, hört sich selbst für mich irgendwie falsch an. Daher wäre ich eine Woche später vor Panik fast gestorben, als Anna und ich mit dem Fahrstuhl nach unten fahren und sich die Türen auf einer Zwischenetage öffnen und plötzlich Marco davorsteht, der die Statur eines Miniatur-Sumoringers hat. Der Moment ist denkbar ungünstig, Anna und ich knutschen noch und springen auseinander, als der Fahrstuhl hält, doch Marco muss unsere Bewegung bemerkt haben.
    »Euer Ehren! Sie sind in letzter Zeit aber oft hier.«
    Ich stelle Anna nicht vor, und ich spüre, dass Marco mich glatt durchschaut. Eine Woche danach bemerke ich ihn, als ich gerade ins Hotel komme, und mache eine Pirouette, um wieder zur Tür hinauszumarschieren und abzuwarten, bis er die Lobby verlassen hat.
    »Es wird Zeit, den Ort des Verbrechens zu wechseln«, erkläre ich, sobald ich sicher im Hotelzimmer bin. »Marco war lange bei der Polizei. Er war faul, aber er hatte eine prima Nase.«
    Anna hat sich mittlerweile ausgezogen. Sie trägt den flauschigen Hotelbademantel, aber den Gürtel hat sie durch ein breites rotes Satinband ersetzt, das zu einer kunstvollen Geschenkschleife gebunden ist.
    »Dann ist das, was wir hier machen, in deinen Augen also ein Verbrechen?«
    »Alles, was sich so gut anfühlt, muss verboten sein«, erwidere ich. Ich habe mein Jackett aufgehängt und setze mich aufs Bett, um die Schuhe auszuziehen, ehe ich merke, dass ich viel zu schnodderig war. Sie starrt mich an.
    »Du könntest wenigstens so tun, als würdest du darüber nachdenken, mit mir zusammen zu sein.«
    »Anna -« Aber wir wissen beide, dass sie nah an der Wahrheit dran ist. Ich habe keine einzige Nacht mit ihr

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