Der letzte Beweis
dann gewartet hat wie ein treuer Hund, den man an einen Laternenpfahl gebunden hat. Wie viel weiß er? Wie viele Male ist er schon hinter mir hergeschlichen? Wie so oft in diesen Tagen haut mich das Ausmaß meiner Dummheit beinahe um.
»Was für ein Zufall«, sagt er ohne den leisesten Hauch von Aufrichtigkeit, daher weiß ich, dass meine Vermutung richtig ist. Ich flehe mein Herz an, sich zu beruhigen, während ich überlege, was er möglicherweise beobachtet haben kann. Er weiß, dass ich während der Mittagspause in Hotels gehe und mitunter länger dort bleibe, als ein normales Mittagessen erfordert. Aber das ist alles. Wenn er mir gefolgt ist, kann er Anna nicht gesehen haben, die zehn Minuten vor mir eingetroffen ist.
»Das kann mal wohl sagen«, antworte ich schließlich. Erpressung wäre Harnason durchaus zuzutrauen, und ich mache mich auf seine Drohung gefasst. Sie wird sinnlos sein. Ich kann den Ausgang seines Verfahrens in keiner Weise mehr beeinflussen. Doch während wir etwa drei Meter voneinander entfernt stehen, wird Harnasons rotes Gesicht auf einmal so dunkel wie ein Sonnenuntergang.
»Ich halt das nicht aus, Euer Ehren«, sagt er. »Diese Ungewissheit. Als mir die Kaution gewährt wurde, war ich überglücklich, aber es ist nicht so, als wäre man frei. Ich laufe herum und hab immer das Gefühl, dass gleich hier unter mir im Bürgersteig eine Falltür aufklappt.«
Ich blicke Harnason an, den ich einst aus den falschen Gründen verurteilte und für den ich mich eingesetzt habe, ohne dass er es weiß.
»Es wird nicht mehr lange dauern«, sage ich und wende mich ab. Sofort spüre ich seine Hand an meinem Ärmel.
»Bitte, Euer Ehren. Wo ist der Unterschied? Wenn es doch schon beschlossen ist, was schadet es dann, wenn Sie es mir sagen? Es ist entsetzlich, Richter Sabich. Ich will es bloß wissen.«
Es ist falsch. Das wäre die richtige Antwort. Aber ein schwacher Duft von Annas Parfüm liegt auf meiner Haut, und noch immer steigt von meinem Schwanz dieses ausgelaugte, matte, benebelte Gefühl in mir auf. Wer bin ich heute, dass ich mich hinter Prinzipien verschanze? Oder noch wichtiger: dass ich ihm das Mitgefühl verweigere, das ich ihm vor dreißig Jahren schuldig geblieben bin?
»Sie sollten sich auf schlechte Nachrichten gefasst machen.«
»Ah.« Der Klang dringt aus der Tiefe seines Körpers. »Keine Hoffnung?«
»Praktisch nicht. Ende der Fahnenstange. Es tut mir leid.«
»Ah«, sagt er erneut. »Ich wollte wirklich nicht mehr dahin. Ich bin zu alt dafür.«
Während wir da auf der Straße stehen, umspült von Einkaufsbummlern und Geschäftsleuten, von denen viele mithilfe von Handys oder iPods elektronisch in ihren eigenen Universen unterwegs sind, habe ich mit widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen. Ich empfinde ungewöhnliches Mitleid mit Harnason, aber ich bin auch ungehalten über die Art, wie er mir aufgelauert und Informationen abgebettelt hat, und ich weiß, ich muss eine klare Grenze ziehen, um weiter gehende Einschüchterungen zu unterbinden. Vor allem bin ich im Augenblick leicht gereizt durch sein Selbstmitleid. Als Ankläger hatte ich immer einen gewissen Respekt vor den Leuten, die ins Gefängnis gingen, ohne mit der Wimper zu zucken, die den Mumm hatten, ihre Strafe hinzunehmen.
»John, seien wir doch mal ehrlich. Sie haben's getan, nicht wahr?«
Er antwortet prompt: »Sie auch, Euer Ehren. Und Sie sind hier.«
Nein, will ich schon sagen, und damit meine langjährige Scheu vor dieser Antwort über Bord werfen.
»Ich wurde freigesprochen«, entgegne ich. »Genau wie ich es verdiente.«
»Ich hätte es auch verdient«, sagt er. Er hat sein Taschentuch hervorgeholt und putzt sich die Nase. Er heult jetzt hemmungslos, weint wie ein Kind. Ein paar Leute, die sich auf dem Weg ins Hotel an uns vorbeischieben, drehen sich zu ihm um, aber Harnason ist das egal. Er ist, wie er ist.
»Aber nicht, weil Sie es nicht getan haben«, sage ich. »Wie war das, John? In dem Monat, in dem Sie wussten, dass Sie dabei waren, den Mann umzubringen?« Ich weiß selbst nicht, was ich damit erreichen will, ihn so zur Rede zu stellen. Ich vermute, dass ich im Grunde die Frage stelle: Wo ist die Grenze? Wie hört man auf? Nachdem ich meine Referendarin gevögelt und meine Frau betrogen habe, nachdem ich alles, was ich je erreicht habe, aufs Spiel gesetzt habe, wo ist der Punkt, an dem ich sage: genug?
»Müssen Sie das wirklich noch fragen, Euer Ehren?«
»Ja.«
»Es war schwer, Euer Ehren.
Weitere Kostenlose Bücher