Der letzte Beweis
und er hatte zugenommen. Er saß in seinem grellorangefarbenen Overall da und trug Handschellen und Fußeisen, die jeweils an einen in den Boden eingelassenen Stahlring gekettet waren. Der helle Streifen von einer Armbanduhr, die man ihm bei seiner Verhaftung abgenommen hatte, leuchtete zwischen den rötlich blonden Haaren auf seinem Unterarm, und er schaute sich ängstlich um, drehte alle paar Sekunden den Kopf um volle 180 Grad. Er war erst seit wenigen Stunden im County-Gefängnis, aber schon jetzt ständig auf dem Quivive vor dem, was sich alles von hinten nähern könnte. Den ganzen Quatsch mit Waterboarding und Verschleppung ins Ausland könnte man sich sparen, dachte Tommy. Man brauchte al-Qaida einfach nur über Nacht ins Gefängnis von Kindle County zu stecken. Am nächsten Morgen wüsste man, wo Osama ist.
Tommy beschloss, Harnason selbst zu befragen, und wollte zunächst von ihm wissen, wann er erstmals an Flucht gedacht hatte.
»Als ich wusste, dass ich die Berufung verlieren würde, konnte ich den Gedanken nicht ertragen, wieder ins Gefängnis zu müssen. Bis dahin hab ich ehrlich gedacht, ich würde gewinnen. Davon war Mel nämlich überzeugt.«
Tommy brachte nicht den Mut auf, Tooley in die Augen zu sehen. Verteidiger gewannen nur selten eine Berufung. Tooley hatte seinem Mandanten noch mal zehn Riesen abknöpfen und beim Obersten Bundesstaatsgericht Berufung einlegen wollen.
»Und woher wussten Sie, dass Sie wieder ins Gefängnis mussten?«
»Ich dachte, Mel hätte Ihnen das schon erzählt«, sagte Harnason.
»Tja, wir möchten es von Ihnen hören«, sagte Tommy.
Harnason nahm sich einen Moment Zeit, um seine dicklichen gefalteten Hände zu betrachten.
»Wissen Sie, ich kenn den Mann schon ewig. Sabich, mein ich. Beruflich. Wenn man das hier so nennen kann.« Harnason wedelte mit der Hand zwischen Molto und sich. Tommy zuckte die Achseln: Von mir aus. »Und nachdem er mir Kaution gewährt hatte, hab ich angefangen, über ihn nachzudenken. Ich hab gedacht, vielleicht hat er Gewissensbisse. Weil er mich damals verknackt hat. Er sollte weiß Gott welche haben.«
Weder Tommy noch Brand wussten etwas darüber, und Harnason erzählte ihnen von seinen ersten Begegnungen mit Rusty vor langer Zeit. Tommy konnte sich noch an die Schwulenrazzien erinnern, die Ray Horgan gern kurz vor Wahlen inszenierte, draußen im Stadtwald und auf der Herrentoilette der Zentralbibliothek und in verschiedenen Bars. Die Festgenommenen wurden vor zahllosen Kameras in Schulbusse getrieben. Die Zeiten ändern sich, dachte Tommy. Er wusste noch immer nicht so recht, was er davon halten sollte, dass Schwule heirateten oder Kinder großzogen, aber Gott hätte wohl kaum eine ganze Gruppe von Menschen auf diese Erde gesetzt, wenn sie nicht zu Seinem Plan dazugehörte. Leben und leben lassen, so sah Tommy das heute. Damals jedoch, das wusste er, hätte er den Fall Harnason genauso gehandhabt, wie Rusty das getan hatte.
Unsicher, ob Sabich sich tatsächlich an ihn erinnerte, hatte Harnason impulsiv beschlossen, ihn nach der mündlichen Verhandlung anzusprechen, nur um Hallo zu sagen und ihm zum Geburtstag zu gratulieren und sich für die Kautionsentscheidung zu bedanken. Tommy fragte sich kurz, inwieweit das Gespräch mit Harnason dazu beigetragen haben mochte, Sabich zu seinem Widerspruch gegen den Gerichtsentscheid zu bewegen.
»Mel hat mich deswegen zusammengestaucht«, sagte Harnason. »Ich wollte auf keinen Fall, dass Sabich von dem Fall zurücktritt. Aber irgendwas war seltsam bei unserem Treffen.«
»Inwiefern?«, fragte Tommy.
»Da war eine Verbindung. Wir waren irgendwie -« Harnason nahm sich länger Zeit, und sein weiches Gesicht mit den rosafarbenen Flecken suchte sichtlich nach den richtigen Worten. »Vom gleichen Schlag«, sagte er.
Tommy verstand, was er meinte. Anwälte. Hurenböcke. Und Mörder. Tommy konnte nicht anders. Er fing an, Harnason zu mögen.
Brand, an Tommys Seite, machte sich gelegentlich Notizen, doch die meiste Zeit beobachtete er Harnason genau und versuchte offensichtlich, sich eine Meinung zu bilden. Harnason sprach überwiegend mit hängendem Kopf - wodurch statt seines Gesichts nur sein schütteres graues Haar mit den kahlen Stellen darin zu sehen war -, als wöge die Erinnerung an das alles achtzig Pfund. Tommy erkannte das Problem. Harnason war Sabich dankbar. Es fiel ihm schwer, dem Mann ans Bein zu pinkeln.
»Sabich hatte irgendwas Vages gesagt von wegen, sie hätten meine Einwände
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