Der letzte Beweis
Verlangen. Die Sehnsucht. Letztes Jahr im Juli, kurz nach meinem Besuch bei Sandy Stern, war ich einige Tage lang davon überzeugt, dass ich bereit wäre, alles aufzugeben und Anna anzuflehen, zu mir zurückzukommen. Ich ging zu Dana Mann, einem alten Freund, der hier in der Stadt der Topanwalt für Scheidungen in besseren Kreisen ist. Ich hatte nicht vor, ihm alles über Anna zu erzählen, nur, dass ich mich mit dem Gedanken trug, meine Ehe zu beenden, und mich informieren wollte, wie ich das möglichst ohne Aufsehen durchziehen konnte, vorausgesetzt, Barbara wäre einverstanden. Aber Danas anwaltliche Stärke liegt in seinem Gespür für die Schwachstellen im Mauerwerk, und schon nach einigen wenigen Fragen konnte er sich ein grobes Bild von der ganzen Geschichte machen.
»Ich glaube nicht, dass du hergekommen bist, um dich politisch beraten zu lassen«, sagte er. »Aber falls du während des Wahlkampfes keine unerwünschten Schlagzeilen machen willst, solltest du lieber nichts unternehmen.«
»Ich bin schon lange unglücklich. Als ich mich mit dieser Frau eingelassen habe, da wusste ich selbst nicht, wie verzweifelt ich bin. Aber jetzt glaube ich, dass ich nicht mehr nichts unternehmen kann. Vorher ging es mir besser, genau aus diesem Grund.«
»Das Wesen der Verzweiflung liegt gerade darin, dass sie sich nicht selbst als Verzweiflung erkennt«, sagte Dana.
»Wo hast du denn das her?«
»Kierkegaard.« Dana lachte über meinen ungläubigen Gesichtsausdruck. Ich kenne Dana seit dem Studium, und damals führte er keine Philosophen im Munde. »Das hab ich von einem Uniprofessor, den ich letztes Jahr als Mandanten hatte. Eine ähnliche Situation.«
»Was hat er gemacht?«
»Sich scheiden lassen. Sie war seine Doktorandin.«
»Wie teuer ist ihn das zu stehen gekommen?«
»Sehr teuer. Die Uni hat ihm ordentlich eins auf die Finger gegeben. Er hatte ihr Stipendien verschafft. Er musste ein Jahr unbezahlten Urlaub nehmen.«
»Ist er trotzdem glücklich?«
»Bis jetzt. Ich glaub, schon. Sie haben gerade ein Baby bekommen.«
»In unserem Alter?« Ich war fassungslos. Irgendwie war mir Danas Geschichte Beweis genug, wie unmöglich das alles war. Ich könnte nie versuchen, die Natur dermaßen ad absurdum zu führen. Oder den Gedanken ertragen, wie Barbara auf eine Scheidung reagieren würde, wie grausam sie leiden könnte. Ehe ich ging, sagte ich Dana, ich würde wohl nicht wiederkommen.
Aber es kommt noch immer vor, dass ich mich nachts, wenn Barbara schläft, vor Begierde und Reue verzehre. Ich hab es nie über mich gebracht, die E-Mails, die Anna mir damals geschickt hat, auf meinem Computer zu Hause zu löschen. Die meisten drehten sich nur darum, wo wir uns das nächste Mal treffen würden. Stattdessen habe ich sie alle in einen Unterordner verschoben, den ich »Gerichtssachen« genannt habe und den ich rund einmal im Monat in dem stillen Haus öffne wie eine Schatztruhe. Ich lese die Nachrichten nicht durch. Das wäre zu schmerzhaft, und der Text ist meistens zu kurz, um viel zu bedeuten. Stattdessen betrachte ich nur ihren Namen, der sich über die Seiten ergießt, die Daten, die Betreffs. »Heute« lauten die meisten, oder »Morgen«. Ich verliere mich in der Erinnerung und wünsche mir ein anderes Leben.
Jetzt, nach Annas Anruf, denke ich über die Dringlichkeit in ihrer Stimme nach. Es könnte alles Mögliche sein, vielleicht sogar irgendwas Berufliches. Aber was werde ich tun, wenn sie mir sagt, dass sie es nicht mehr aushält ohne mich? Was, wenn sie genau das empfindet, was ich schon so lange empfinde? Unser letztes Treffen war im Dulcimer. Hätte sie das Hotel vorgeschlagen, wenn sie nicht Leidenschaft im Sinn hätte? Auf einmal schwebe ich über mir selbst, und meine Seele blickt auf mein ausgehungertes Herz hinunter. Wie kann unerfüllte Sehnsucht als das einzige sinnvolle Gefühl im Leben erscheinen? Aber genauso ist es. Und mir wird klar, dass ich nicht Nein sagen werde, so wie ich nicht Nein sagen konnte, als sie mir auf dem Sofa in meinem Büro das Gesicht zuwandte. Falls sie bereit ist, den Sprung zu wagen, werde ich ihr folgen. Ich werde das, was ich hatte, hinter mir lassen. Ich starre die Bildergalerie auf meinem Schreibtisch an, Nat in unterschiedlichem Alter, Barbara, immer schön. Es ist sinnlos, die vollen Konsequenzen dessen, was ich tun werde, abschätzen zu wollen. Sie sind so zahlreich und so vielfältig, dass nicht mal ein russischer Schachgroßmeister oder ein Computer in der
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