Der letzte Beweis
ungewöhnlich. Patienten, die das Zeug nehmen, werden in der Regel immer wieder gewarnt, wie gefährlich dieses Medikament ist.«
»Dann war es also kein Unfall?«
»Ich würde spontan sagen, nein, aber es gibt ein Phänomen, das sich postmortale Redistribution nennt. Es bewirkt, dass gewisse Antidepressiva nach dem Tod zum Herzen wandern, was zu erhöhten Konzentrationen im Koronarblut führt. Das trifft ganz besonders auf Trizyklika zu. Ob sich MAO-Hemmer ähnlich verhalten, ist in der Fachliteratur noch umstritten. Ich weiß nicht, ob Phenelzin wandert, und auch sonst weiß das keiner, jedenfalls nicht mit Sicherheit. Wenn wir zum Zeitpunkt der Obduktion gewusst hätten, wonach wir suchen, hätten wir eine Blutprobe aus der Oberschenkelarterie entnommen, weil es so weit vom Herzen keine postmortale Redistribution gibt, aber die Blutentnahme aus dem Oberschenkel ist bei uns kein Standardverfahren, und jetzt können wir das natürlich nicht mehr nachholen. Es wird also kein Toxikologe mit Sicherheit sagen können, ob die hohe Phenelzinkonzentration in ihrem Blut beweist, dass sie tatsächlich eine tödliche Dosis zu sich genommen hat, oder ob sie auf postmortale Redistribution zurückzuführen ist.«
Brand würde sich ein »Ich hab's dir doch gesagt« verkneifen, aber Tommy wurde klar, dass sie heute mehr wussten, wenn er Jim nicht davon abgehalten hätte, die Sache von Anfang an als Mordermittlung zu behandeln. Molto glitt kurz in Gedanken ab und seufzte. Manchmal, wenn er nachts mit Tomaso auf dem Schoß dasaß, überlegte er, welche tagsüber getroffene Entscheidung ihn vielleicht ein Jahr später wieder einholen würde. Wenn er sich dann wieder schlafen legte, dachte er unweigerlich: Du kannst nur dein Bestes tun. Wer Verantwortung hatte, machte notwendigerweise Fehler. Man konnte nur hoffen, dass sie sich als unbedeutend erwiesen.
Er sah wieder Dr. Strack an. »Das mit dieser Redistribution heißt also, dass sie möglicherweise keine Überdosis verabreicht bekommen hat? Vielleicht hat sie bloß eine Tablette genommen und ein bisschen geschummelt und eine Pizza mit doppelt Käse gegessen.«
»So könnte es gewesen sein.«
»Und was ist mit Selbstmord? Ist das so ein Medikament, durch das Depressive unter Umständen sogar noch selbstmordgefährdeter werden?«
»Das wird in Fachkreisen behauptet.«
»Kein Abschiedsbrief«, sagte Brand als Einwand gegen die Möglichkeit, dass Barbara sich selbst getötet hatte. »Die Cops haben keinen Abschiedsbrief gefunden.«
Tommy hob eine Hand. Er wollte jetzt keine Diskussion.
»Also war es vielleicht Suizid. Vielleicht war es Mord. Vielleicht war es ein Unfall. Mehr können Sie uns nicht sagen?«, wollte Molto von Dr. Strack wissen.
»Vorausgesetzt, dass der Tod durch Phenelzin herbeigeführt wurde. Um das definitiv festzustellen, brauchen Sie einen Pathologen.«
Diese Dr. Strack sah zwar ganz okay aus, aber inzwischen durchschaute Tommy sie. Sie war schon so oft bei Kreuzverhören in die Mangel genommen worden, dass sie lieber gar nicht mehr vor Gericht aussagte. Er dachte, die Naturwissenschaft sei dazu da, das Unbekannte zu erforschen, doch Wissenschaftler wie Strack zogen es anscheinend vor, das Unbekannte auch unbekannt bleiben zu lassen. Er konnte das wirklich nicht nachvollziehen.
Brand, der in dem Lehnstuhl neben Strack saß, war unschwer anzusehen, wie ihm zumute war. Er hatte das Kinn gesenkt und zog ein Gesicht, als hätte er Sodbrennen. Tommy konnte sich denken, was in Jim vorging: Nachdem Dr. Strack ihn zuerst eingewickelt hatte, war sie im Gespräch mit dem allmächtigen Oberstaatsanwalt weich geworden. Jim hätte sie gar nicht erst hergebracht, wenn sie bei ihm im Büro nicht wesentlich positiver gewesen wäre. Sollte dieser Fall tatsächlich irgendwann vor Gericht kommen, würden sie ihr eine Stahlstange ins Rückgrat rammen müssen oder sich einen anderen Sachverständigen suchen.
»Was ist mit der Zeit?«, fragte Brand. »Wenn man nach Eintritt des Todes einen Tag vergehen lässt, inwieweit erschwert das den Nachweis der Phenelzinüberdosis bei der Obduktion?«
Dr. Strack strich sich übers Gesicht, während sie ihre Antwort abwog. Sie trug einen Ehering mit einem Diamantsplitter von der Größe eines Brotkrümels. So ein Ring besagte: Ich hab meine Jugendliebe geheiratet, als wir nichts hatten außer unserer großen Liebe. Irgendwie machte sie das Tommy ein bisschen sympathischer.
»Ich vermute, erheblich«, sagte sie. »Je schneller die
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