Der letzte Beweis
durchgeschwitzt, und ich sah mit meiner Siebzig-Dollar-Frisur, die mir im
Gesicht klebte, noch schlimmer aus.
Wir
beschlossen, dass Nat die restlichen Kisten holen sollte, während ich uns was
zum Mittagessen besorgte. Ich brauchte länger als erwartet, weil ich mich in
der neuen Gegend noch nicht auskannte, und als ich zurückkam, war er schon oben
und stand auf dem Balkon. Er hatte sein T-Shirt ausgezogen und wrang es aus,
und er sah verdammt gut dabei aus, schlank, aber muskulös, und ich spürte seine
Wirkung auf mich in der gesamten unteren Körperhälfte. Ich wandte mich
rechtzeitig ab, ehe er mich erwischte, wie ich ihn anstierte.
»Hunger?«
Ich hielt die Tüte hoch, als er wieder hereinkam.
»Es gibt
also wirklich was zu beißen, im Gegensatz zum letzten Mal?«
Ich
versetzte ihm zur Strafe einen Stoß. Es gab keinen Tisch, und während ich noch
überlegte, wo wir uns hinsetzen sollten, zeigte er auf eine der letzten
Kisten, die er reingetragen hatte. Sie war voll mit gerahmten Fotos, die ich
jahrelang aufbewahrt hatte, zum Wegwerfen zu kostbar und zum Aufstellen zu
peinlich.
»Ich hab
das hier zufällig gesehen«, sagte er und zog die Vergrößerung eines alten
Schnappschusses von meiner Mutter, meinem Vater und mir mit fünf Jahren
heraus. Es war Weihnachten, und der Schnee türmte sich hoch vor unserem
Bungalow. Mein Dad hielt mich auf dem Arm und sah mit Pelzmütze und Pelzmantel
ziemlich verwegen aus. Ich trug ein kleines Schottenoutfit mit passender Mütze,
und meine Mom lächelte neben uns. Trotzdem war da ein deutliches Unbehagen
zwischen uns dreien zu spüren, denn wir wussten alle, dass die fröhliche Pose
eben nur Pose war.
»Das ist
eines der wenigen Bilder, die ich von uns dreien habe«, erklärte ich Nat.
»Meine Tante hat es praktisch versteckt. Nachdem mein Dad sich getrennt hatte,
ist meine Mom sämtliche Familienfotos durchgegangen und hat ihn überall
rausgeschnitten. Mit einer Schere. Ich hab das nie so richtig verstanden. Er
hatte Affären, aber im Laufe der Jahre hab ich so einige Andeutungen gehört,
und ich glaube, sie hatte auch welche. Aber ganz genau weiß ich es nicht.
Eigenartig.«
»Ich
weiß, wie das ist«, sagte er. »Ich glaube, mein Dad hatte eine Geliebte, als
ich noch klein war. Das hing irgendwie mit seinem Prozess damals zusammen, aber
weder er noch meine Mom haben mir je erzählt, was damals genau passiert ist.
Ich weiß es bis heute nicht.«
Darauf
verstummten wir beide. Nat drehte sich um und zog ein weiteres Bild heraus,
diesmal mein Hochzeitsfoto.
»Nicht
schlecht!«, sagte er. Ich würde ihm nicht die Wahrheit sagen, dass ich das
Bild nämlich bloß deshalb nie weggeworfen hatte, weil ich an dem Tag so
großartig aussah.
»Dieses
Foto«, sagte ich, »ist wirklich und wahrhaftig das einzig Gute, das meine Ehe
mir gebracht hat. Man sollte meinen, für jemanden wie mich, ohne Kinder und
ohne viel Geld, wäre es nicht weiter schlimm, wieder von vorne anzufangen.
Aber es
ist schlimm. Zu heiraten ist etwas so Hoffnungsvolles. Und wenn das scheitert,
brauchst du lange, um dich wieder aufzurappeln.«
Das
nächste Bild, das er herauszog, ließ ihn erstarren.
»Das
gibt's nicht«, sagte er. »Ist das etwa Storm?«
Auf dem
Bild hat der berühmte Rocker in seiner Nietenlederjacke die Arme um mich und
meine beste Freundin Dede Wirklich gelegt. Wir beide waren damals vierzehn. Ich
hatte bei einer Verlosung im Radio gewonnen, zwei Eintrittskarten für ein
Konzert von Storm und die Gelegenheit, ihn backstage zu treffen, und natürlich
nahm ich Dede mit. Als ich sie in der zweiten Klasse kennenlernte, hatte ich
das Gefühl, ein fehlendes Stück von mir selbst wiedergefunden zu haben. Auch
ihr Vater war abgehauen, und wir beide schienen uns auf eine Weise zu
verstehen, die auch ohne Worte ausgekommen wäre.
Sie war
ein ziemlicher Draufgänger und handelte sich später oft Ärger ein. Wir heckten
diverse Streiche aus - einmal schlichen wir uns ins Büro des Direktors und
versteckten dort eine höllisch laute Grille, die er erst nach tagelangem Suchen
fand -, aber die Lehrer gaben mir nur selten die Schuld, weil ich in vielen
Fächern die Beste in der Klasse war. Mit elf Jahren fingen wir an, uns aus den
Gin- und Wodkaflaschen, die ihre Mutter versteckt hatte, kleine Mengen abzuzapfen
und heimlich zu trinken. Wir füllten sie immer wieder mit Wasser auf, bis beide
Flaschen nur noch nach Leitungswasser
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