Der letzte Bissen
jemand, den ich kenne?«
»Ich glaube nicht«, sagte Liebisch. »Aber Frau Kutah wird jemanden kennen. Sein Name ist Petersen.«
Bastian legte seine Stirn in Falten. »Sie glaubt, dass Petersen ihr eine Kiste Hähnchenschenkel untergeschoben hat.«
Liebisch zuckte mit den Achseln. »Petersen wird darüber nichts mehr sagen können. Seine Leiche ist vor zwei Stunden in einem Waldstück bei Wandlitz gefunden worden.«
52.
Günther Wollweber manövrierte den Rollstuhl vor die Panoramascheibe. Die Hauptstadt litt noch immer unter der Hitzewelle, die für heute angekündigten Gewitter waren bisher ausgeblieben. Obwohl der Raum klimatisiert war, bildeten sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn.
Die letzten Tage waren sehr anstrengend gewesen. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass man ihm mit Beginn der Erpressung die Hölle heiß machen würde, aber er hatte nicht mit einer so heftigen Gegenwehr gerechnet. Es hatte Tote in den eigenen Reihen gegeben, sein Hauptquartier und ein Lager waren aufgeflogen, die ganze Organisation war in ihren Grundfesten erschüttert.
Vielleicht war die Zeit gekommen, sich aus dem aktiven Geschäft zurückzuziehen und seinen Sohn auf den Thron zu lassen. Boris handelte zwar manchmal etwas unüberlegt, war leicht reizbar und nicht gerade ein genialer Stratege, aber er besaß seine Gene und hatte in den letzten Jahren viel dazugelernt.
Als sein Sohn das Studium der Betriebswirtschaft aufgenommen hatte, konnte keiner ahnen, dass der Name Wollweber später einmal mit den Begriffen Organisierte Kriminalität und Fleischmafia in Verbindung gebracht werden würde. Die Wurstfabrik hatte Millionenumsätze gemacht und vielen Menschen in Brandenburg Arbeit und Fleisch gegeben. Für sein soziales Engagement hatte Günther Wollweber den Verdienstorden des Landes Brandenburg aus der Hand des Ministerpräsidenten in Empfang genommen. Wollweber senior war ein geachtetes Vorstandsmitglied des Unternehmerverbandes und Vorsitzender der Rotarier. Als seine Frau an Krebs starb, rief er eine Stiftung ins Leben und spendete einen Großteil seines Vermögens. Er war zum Skilaufen in die Schweiz und zum Tauchen auf die Malediven gefahren. Bis auf den Tod seiner geliebten Frau hatte ihm das Leben keine Rückschläge, Niederlagen und Tränen bereitet. Selbst die Umsatzeinbußen nach Schweinepest und Vogelgrippe hatte er verschmerzen können. Aber dann waren diese Fanatiker an die Macht gekommen, die das Volk aufhetzten und belogen, um ihre irrsinnigen Gesetze durchzubringen. Sie wollten sein Lebenswerk ruinieren.
Günther Wollweber war schnell klar gewesen, dass Appelle, Demonstrationen und Unterschriftensammlungen die Prohibition nicht verhindern konnten. Aber er war auch nicht bereit, kampflos das Feld zu räumen. Das war eine Frage des Stolzes, eine Frage der Ehre.
An dem Tag, als die Mastbetriebe, Schlachtereien und Metzgereien hatten schließen müssen, rollten Wollwebers erste illegale Transporte über die Grenze zu Vertriebsstellen in ganz Deutschland. Den Lkw-Konvoi hatte er mit den Abfindungen und Entschädigungen in Millionenhöhe finanziert, die er von der EU für die Schließung des Betriebes bekommen hatte.
So war er während der letzten vier Jahre noch reicher geworden, aber Geld interessierte ihn nicht sonderlich. Kein Geld der Welt ermöglichte es, dass er wieder laufen konnte.
Er spürte die Anstrengungen der letzten Tage in seinen Knochen, fühlte sich ausgelaugt und schlapp. Er brauchte mehr als eine Auszeit.
Günther Wollweber nickte seinem Spiegelbild zu. Die Zeit war reif. Noch heute würde er seinem Sohn die Geschäfte übergeben. Der Senior schmunzelte, als er sich das verblüffte Gesicht seines Sprösslings vorstellte. Boris Wollweber fuhr von Osten kommend ins Zentrum, vorbei am Strausberger Platz. Im Springbrunnen kühlten sich ein Dutzend Touristen und Einheimische die heiß gelaufenen Füße. Viele Fenster der sechs- bis achtgeschossigen Häuserblocks an der Karl-Marx-Allee waren geöffnet, Boris sah nackte Männeroberkörper und Frauen in Bikinis. 1953 hatte hier, an der Baustelle zu den Arbeiterwohnpalästen, der Aufstand vom 17. Juni seinen Anfang genommen, fünfundfünfzig Jahre später die größte Anti-Prohibitions-Demonstration, die das Land gesehen hatte. Auf der Kundgebung hatten Rockstars und Liedermacher vor einer halben Million Menschen zum zivilen Widerstand aufgerufen. Die Liedermacher Hannes Wader und Konstantin Wecker hatten noch einmal all ihre
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