Der Letzte Bus Nach Woodstock
Minuten gebraucht, und der ist doch nur eine halbe Seite lang.«
»Sie sind ein aufmerksamer Beobachter, Lewis, aber was Ihre Schlußfolgerung angeht, da muß ich Sie enttäuschen. Der Bericht ist unsäglich, so etwas habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Zwölf grammatische Schnitzer in zehn Zeilen! Das hätte es hier früher nicht gegeben.«
Lewis dachte mit Schrecken daran, daß es um seine eigenen Kenntnisse in Rechtschreibung und Grammatik auch nicht gerade gut bestellt war, und fragte sich mit leiser Verzweiflung, wie viele Fehler Morse wohl in seinen beiden Berichten entdeckt haben mochte. Um den Inspector von dem unangenehmen Thema abzubringen, sagte er: »Jetzt sind wir schon mal einen Schritt weiter.«
»Den Eindruck habe ich nicht«, sagte Morse.
Lewis war seine Skepsis unverständlich. Immerhin hatten sie jetzt ansatzweise eine Vorstellung von Sylvias letzten Stunden. Sie hatte das Büro gegen 17 Uhr verlassen und war dann mit großer Wahrscheinlichkeit die etwa hundert Meter die Straße hinunter zur Haltestelle des Zweier-Busses gelaufen, der dort vor dem University College hielt. Um 17 Uhr 35 war sie zu Hause gewesen und hatte Abendbrot gegessen. Sie hatte ihrer Mutter gesagt, daß sie ausgehen wolle und vermutlich erst spät wieder zu Hause sein würde. Gegen 18 Uhr 30 war sie aufgebrochen. Soweit sich feststellen ließ, hatte sie die Sachen angehabt, in denen sie später auch gefunden wurde. Blieb die Frage, wie sie nach Woodstock gekommen war. Lewis fand, das vorläufige Ergebnis sei ein guter Ausgangspunkt für die weiteren Ermittlungen.
»Soll ich mich an die Busgesellschaft wenden, Sir, und die Fahrer befragen, die die Route nach Woodstock fahren?«
»Schon geschehen«, sagte Morse.
»Und? Kein Erfolg?« Die Stimme des Sergeant verriet Enttäuschung.
»Ich glaube nicht, daß sie den Bus genommen hat.«
»Ein Taxi?«
»Ziemlich unwahrscheinlich, denken Sie nicht?«
»Ich weiß nicht, Sir. Ist vielleicht gar nicht mal so teuer.«
»Das Geld ist nicht der Punkt. Wenn sie mit dem Taxi fahren wollte, hätte sie sich doch vermutlich von zu Hause aus eins gerufen. Sie haben Telefon.«
»Vielleicht hat sie das ja getan.«
»Nein, hat sie nicht. Vom Apparat der Kayes sind vorgestern überhaupt keine Telefongespräche geführt worden.«
Lewis fühlte seine Zuversicht schwinden. »Ich bin ja scheint’s keine große Hilfe«, sagte er. Morse tat, als habe er die Bemerkung nicht gehört.
»Lewis, wenn Sie von Oxford nach Woodstock wollten – wie würden Sie das machen?«
»Ich würde mit dem Auto fahren, Sir.«
»Sie hatte kein Auto.«
»Vielleicht, daß eine Freundin sie mitgenommen hat?«
»Sie haben doch selbst in Ihrem Bericht geschrieben, daß sie wohl gar keine richtige Freundin gehabt hat.«
»Sie meinen, eher einen Freund?«
»Was meinen Sie denn?«
Lewis dachte einen Augenblick nach. »Haut auch nicht so ganz hin. Ein Freund hätte sie doch wahrscheinlich von zu Hause abgeholt.«
»Tja, das denke ich auch.«
»Aber sie ist nicht abgeholt worden, oder?«
»Nein. Ihre Mutter hat sie allein weggehen sehen.«
»Dann haben Sie inzwischen mit ihrer Mutter gesprochen?«
»Ja. Gestern abend.«
»Und wie geht es ihr?«
»Sie hat ein breites Kreuz, Lewis. Ich mag sie eigentlich. Es hat sie natürlich ziemlich mitgenommen, aber andererseits auch nicht so sehr, wie ich zuerst befürchtet hatte. Ich habe den Eindruck, als ob ihre attraktive Tochter ihr so manchen Kummer bereitet hat.«
Morse ging zu dem großen Spiegel hinüber, holte einen Kamm aus der Tasche und begann, sein schon etwas schütteres Haar zu frisieren. Mit großer Sorgfalt zog er sich ein paar Strähnen über den kahlen Hinterkopf und steckte den Kamm dann wieder in die Tasche. Ohne sich umzudrehen, fragte er den verblüfften Lewis, was er davon hielte.
Dann wurde er ohne Übergang wieder dienstlich. »Sehen Sie, Lewis, Sylvia ist weder mit dem Bus noch mit einem Taxi gefahren und offenbar auch nicht von einer Freundin oder einem Freund mitgenommen worden. Wie ist sie also nach Woodstock gekommen? Hingekommen ist sie, das steht ja nun mal fest.«
»Dann muß sie getrampt sein.«
Morse betrachtete immer noch sein Spiegelbild. »Ja, Lewis, der Ansicht bin ich auch. Und deshalb –« er holte wieder den Kamm aus der Tasche und probierte, ob sich seine spärlichen Haare nicht vielleicht doch vorteilhafter arrangieren ließen – »deshalb denke ich, werde ich mich heute abend auf dem Fernsehschirm präsentieren.«
Weitere Kostenlose Bücher