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Der Letzte Bus Nach Woodstock

Der Letzte Bus Nach Woodstock

Titel: Der Letzte Bus Nach Woodstock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Morse setzte sich auf das schmale Bett und sah sich um. Das Zimmer verriet, daß seine Bewohnerin eher schlampig gewesen war, daß das Bett so ordentlich gemacht war, war sicher der mütterlichen Fürsorge zuzuschreiben. Über dem im Kamin eingebauten Gasbrenner hing, nachlässig angepinnt, so als würde es jeden Moment herunterfallen, das überdimensionale Farbposter eines Popsängers, und Morse mußte, wie so oft, daran denken, daß ihm die Welt der Jugendlichen nicht so fremd wäre, wenn er selber Kinder in diesem Alter hätte. Doch wie die Dinge lagen, würde ihm der Zugang zu ihnen wohl versperrt bleiben. Auf dem Tisch und dem Stuhl – neben dem Bett und einem Schrank aus hellem Holz den einzigen Möbeln – lag, achtlos hingeworfen, Unterwäsche. Morse nahm den leichten schwarzen BH vom Stuhl und hielt ihn in die Höhe. Vor seinen Augen erschien plötzlich das Bild Sylvias, so wie sie im Licht der Taschenlampe zu seinen Füßen gelegen hatte. Auf der Fensterbank türmten sich in einem kippligen Stoß Frauenzeitschriften. Morse blätterte die Hefte flüchtig durch. Ratschläge für persönliche Probleme und Make-up. Horoskope. Alles sehr züchtig. Er öffnete die Schranktür und betrachtete mit neu erwachendem Interesse die Ansammlung von Röcken, Blusen, Kleidern und Hosen. Sauber und unordentlich. Bergeweise Schuhe mit Keilabsatz, wie sie jetzt offenbar Mode waren. Häßlich. An Geld schien es ihr jedenfalls nicht gefehlt zu haben. Auf dem Tisch sah Morse den Prospekt eines Reiseveranstalters mit Angeboten für Pauschalreisen nach Griechenland, Jugoslawien und Zypern. Strahlendweiße Hotels, blaues Meer und Kleingedrucktes über Haftung und Pockenschutzimpfung. Ein Brief von Sylvias Firma mit Erläuterungen zur Mehrwertsteuer und ein Taschenkalender. Unter dem Datum des 2. Januar hatte Sylvia geschrieben: Kalt. War in › Ryans Toc h ter ‹ .
    Lewis klopfte an die Tür und trat ein. »Haben Sie was gefunden, Sir?« Morse war nicht in der Stimmung, auf den zutraulichen Eifer des Sergeant einzugehen, und überging die Frage mit Schweigen.
    »Darf ich?« fragte Lewis und streckte seine Hand nach dem Taschenkalender aus.
    »Nur zu«, sagte Morse.
    Lewis schlug den September auf, blätterte Seite für Seite langsam um und ging, nachdem er festgestellt hatte, daß Sylvia in den vergangenen vier Wochen nichts notiert hatte, die übrigen Monate durch. »Nur eine einzige Eintragung. Gleich Anfang des Jahres«, stellte er schließlich etwas geknickt fest.
    »Sie werden doch nicht etwa enttäuscht sein«, sagte Morse sarkastisch.
    »Wir könnten bei den Kinos nachfragen, wo in der ersten Januarwoche › Ryans Tochter ‹ gespielt wurde«, schlug Lewis vor.
    »Klar könnten wir. Und der Preis des Taschenkalenders ließe sich bestimmt auch feststellen, und ob er ein Geschenk war und wenn ja, von wem … Sergeant!«
    »Entschuldigung.«
    »Schon gut. Ihr Vorschlag ist ja vielleicht gar nicht so schlecht.«
    »Ich glaube, was ich eben von Mr. Kaye erfahren habe, wird uns nicht viel weiterhelfen. Wollen Sie noch mal mit ihm sprechen?«
    »Nein. Wir sollten den armen Kerl nach Möglichkeit in Ruhe lassen.«
    »Also bis jetzt keine Fortschritte.« Lewis breitete resigniert die Arme aus.
    »Na, ganz so würde ich es nicht sagen. Miss Kaye trug doch, wenn ich mich recht erinnere, eine weiße Bluse?«
    »Ja, das stimmt.«
    »Wenn Ihre Frau eine weiße Bluse anzieht, was für einen BH trägt sie dann? Ich meine, welche Farbe?«
    »Also – auf jeden Fall einen hellen.«
    »Ein schwarzer BH käme nicht in Frage?«
    »Den würde man ja durchsehen.«
    »Hm. Übrigens, Lewis, wissen Sie zufällig, um welche Zeit gestern abend Sonnenuntergang war?«
    »So aus dem Handgelenk kann ich das jetzt nicht sagen. Es läßt sich aber, wenn Sie wollen, leicht feststellen.«
    »Nicht nötig«, sagte Morse. »Wenn man dem Taschenkalender da Glauben schenken darf, war gestern, am 29. September, der Tag des Hl. Michael, und Sonnenuntergang war um 18 Uhr 40.«
    Lewis stieg hinter dem Inspector die enge Treppe hinunter und fragte sich, was wohl als nächstes käme. Kurz vor der Haustür wandte Morse den Kopf und fragte über die Schulter: »Was halten Sie eigentlich von Women’s Lib, Lewis?«
     
    Gegen elf Uhr saß der Sergeant im Büro von Mr. Palmer, dem Chef von Town and Gown , einer Versicherungsgesellschaft. Die Firma hatte ihre Räume über einem florierenden Tabakgeschäft im zweiten und dritten Stock eines Hauses in der High Street. Sylvia

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