Der Letzte Bus Nach Woodstock
Er griff zum Telefon und ließ sich mit dem Chief Superintendent verbinden. »Gehen Sie zum Mittagessen, Lewis. Ich sehe Sie dann später noch.«
»Soll ich Ihnen aus der Kantine etwas hochbringen lassen?«
»Nein«, sagte Morse, »ich muß auf meine Linie achten.«
Der Tod von Sylvia Kaye hatte in der Donnerstagnachmittagsausgabe der Oxford Mail Schlagzeilen gemacht. Die überregionalen Zeitungen brachten die Meldung am Freitagmorgen auf der ersten Seite. Am Freitagabend strahlte sowohl die BBC als auch ITV in ihren Nachrichtensendungen einen Appell von Morse aus, der alle diejenigen, die sich am vergangenen Mittwoch zwischen 18 Uhr 40 und 19 Uhr 15 auf der Straße von Oxford nach Woodstock befunden hätten und der Polizei vielleicht weiterhelfen könnten, bat, sich zu melden. Gesucht werde ein gemeingefährlicher Mann, ein Gewaltverbrecher, der jederzeit erneut zuschlagen könne. Der Mörder Sylvia Kayes werde sich, wenn man ihn fasse, nicht nur wegen Mordes, sondern auch wegen Vergewaltigung vor Gericht verantworten müssen.
Lewis, der sich während der Fernsehaufnahme im Hintergrund gehalten hatte, ging, nachdem die Kameras abgeschaltet waren, auf den Inspector zu.
»Dieser verdammte Wind«, fluchte Morse. Sein Haar sah aus, als hätte es nie einen Kamm gesehen.
»Glauben Sie wirklich, daß er noch mehr Frauen umbringt?«
»Nein, eigentlich nicht«, sagte Morse.
Kapitel 5 – Freitag, 1. Oktober
Von seltenen Ausnahmen abgesehen, verließ Mr. Bernard Crowther jeden Abend gegen zwanzig vor zehn sein Haus in der Southdown Road im Norden Oxfords, um zu seinem Pub zu gehen. Sein Weg war immer derselbe. Er überquerte das schmale, nicht besonders gepflegte Rasenstück, zog die weiße Gartenpforte hinter sich zu und wandte sich dann nach rechts. Am Ende der Straße bog er erneut rechts ab und steuerte mit entschlossenen Schritten The Fletcher ’ s Arms an. Er war ein Mann, der sich auszudrücken verstand – nicht umsonst war er Dozent für Englisch am Lonsdale College –, doch wenn es darum ging, seine allabendlichen Abstecher in den Pub zu erklären, kam er in Schwierigkeiten und konnte den mißbilligenden Bemerkungen seiner Frau nichts entgegensetzen. Er wußte selbst nicht genau, was ihn so unwiderstehlich dort hinzog. Vielleicht war es das bunt zusammengewürfelte, liebenswürdige Publikum, das zum größten Teil aus Stammgästen bestand.
An diesem Freitagabend jedoch verhielt er sich anders als sonst. Er blieb, nachdem er die Gartenpforte geschlossen hatte, zunächst bewegungslos stehen, den Blick gesenkt und einen Ausdruck tiefer Beunruhigung auf dem Gesicht, als denke er über ein schwerwiegendes Problem nach, um dann nach ein paar Sekunden, ganz gegen seine Gewohnheit und Neigung, langsam nach links die Straße hinunterzugehen bis zum Ende, wo sich, wie er wußte, auf der linken Seite neben einer Reihe ziemlich heruntergekommener Garagen eine öffentliche Telefonzelle befand. Schon an normalen Tagen wurde Crowther leicht ungeduldig, und dies war, wie sich herausgestellt hatte, ganz und gar kein normaler Tag. Als er sah, daß die Zelle besetzt war, fühlte er, wie neben dem üblichen Gefühl der Gereiztheit, das er in solchen Fällen immer spürte, Unruhe in ihm hochstieg. Das Warten und Herumstehen hier war ihm peinlich. Er ging immer wieder einige Schritte auf und ab, sah auf die Uhr und warf dann jedesmal wütende Blicke auf die korpulente Frau, die dort drinnen offenbar nicht zu Rande kam. Die Benutzung des Münzfernsprechers schien ihr nicht vertraut zu sein, und es sah so aus, als habe sie Schwierigkeiten, das passende Kleingeld zu finden. Trotz aller Widrigkeiten schien sie jedoch fest entschlossen, die Sache durchzustehen, und Crowther ließ sich einen Augenblick lang von ihrem trotzigen Eifer anrühren und malte sich aus, daß vielleicht eines ihrer Kinder ernsthaft erkrankt sei, der Vater auf Nachtschicht und außer ihr niemand da, um Hilfe zu holen. Doch dann gewann sein Ärger wieder die Oberhand, und er bezweifelte erneut, daß ihr Anruf auch nur im entferntesten so wichtig war wie das Gespräch, das zu führen er vorhatte. Crowther gehörte zu jenen Leuten, die grundsätzlich alle Nachrichtensendungen immer mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen, egal, wie unwichtig einzelne Beiträge sein mochten. Der Aufruf, der abends um neun in den BBC-Nachrichten ausgestrahlt worden war, war allerdings alles andere als unwichtig gewesen. Crowther konnte sich noch genau an den Wortlaut
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