Der Letzte Bus Nach Woodstock
Angestellten einer genaueren Inspektion unterziehen.«
»Aber dazu brauchen Sie doch einen Durchsuchungsbefehl!«
»Also, was die rechtlichen Voraussetzungen für eine Durchsuchung angeht, da bin ich mir immer nicht so ganz sicher.«
»Doch, doch, Sie müssen einen haben.«
»Da Sie offenbar alles wissen, Lewis, verraten Sie mir doch auch gleich noch, wo ich zu dieser späten Nacht- oder besser frühen Morgenstunde jemanden auftreiben soll, der mir das Ding unterschreibt.«
»Aber wenn Mr. Palmer auf seinen Rechten besteht …« Lewis ließ nicht locker.
»Dann werde ich ihm nachdrücklich klarmachen, daß wir, verdammt noch mal, nicht nach schmutzigen Postkarten aus Pwllheli suchen, sondern nach dem Mann, der Sylvia Kaye vergewaltigt und ermordet hat.«
»Wäre es Ihnen nicht lieber, wenn ich mitginge, Sir?«
»Nein. Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe, und gehen Sie schlafen!«
»Dann viel Glück, Sir.«
»Glück spielt dabei gar keine Rolle«, sagte Morse. »Ich weiß, Sie werden das nicht für möglich halten, aber ich kann, wenn ich will, ganz schön ruppig werden. Mr. Palmer wird aus dem Bett sein wie nichts.«
Mr. Palmer ließ sich zwar herbei, aus dem Bett zu steigen, weigerte sich jedoch strikt, seinen Pyjama gegen einen Anzug zu vertauschen. Statt dessen fragte er nach einem Durchsuchungsbefehl. Nachdem klar war, daß Morse für sein Ansinnen keinerlei Ermächtigung besaß, stellte Palmer sich stur. Alle Überredungsversuche des Inspectors waren vergeblich, und auch seine Drohungen ließen ihn offenbar kalt. Morse wurde klar, daß er den schmächtigen Mann unterschätzt hatte. Nach längerem Hin und Her einigte man sich schließlich doch noch auf eine gemeinsame Linie. Palmer würde am Morgen seine Angestellten auffordern, sich um 8 Uhr 45 in seinem Büro einzufinden. Dort würde man sie fragen, ob sie einverstanden seien, daß die an sie persönlich adressierten Karten und Briefe ihnen nicht wie üblich sofort ausgehändigt, sondern zunächst von der Polizei gelesen würden. Palmer sicherte Morse zu, daß ihm – vorausgesetzt, es gäbe keinen Einspruch – die gesamte Privatpost übergeben würde und er von den Mitteilungen, die ihm wichtig erschienen, Kopien anfertigen dürfe. Morse seinerseits versprach, daß der Inhalt der Korrespondenzen vertraulich behandelt würde. Ferner würden alle gebeten werden, sich zu einer Gegenüberstellung im Präsidium einzufinden. Diese würde am späten Vormittag stattfinden, um Palmer Zeit zu geben, einen telefonischen Notdienst zu organisieren. Zum Glück war der nächste Tag ein Samstag. Da wurde sowieso nur bis Mittag gearbeitet.
Alles in allem war die Sache noch glimpflich abgegangen, dachte Morse rückblickend. Er war auf dem Weg ins Präsidium, müde und abgespannt, und fragte sich während der Fahrt immer wieder aufs neue verwundert, wie er sich trotz seiner jahrelangen Erfahrung in ein derartig unüberlegtes Vorhaben hatte stürzen können, dem vermutlich sowieso kein Erfolg beschieden gewesen wäre. Und doch spürte er tief im Innern, daß sein Instinkt zu handeln richtig gewesen war. Ein Gefühl, das sich weder abweisen noch erklären ließ, sagte ihm, daß sie sich bei ihrer Suche nach dem Mörder in einem kritischen Stadium befanden, das Eile gebot, und daß der große Durchbruch unmittelbar bevorstand. Er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, daß mehr als dieser eine Durchbruch nötig sein würde, um den Fall zu lösen, genausowenig wie er wissen konnte, daß Palmers Weigerung, ihm ohne Durchsuchungsbefehl Zutritt zu den Büroräumen zu gewähren, sich noch als eine Fügung des Schicksals erweisen sollte. Denn an eine von Mr. Palmers jungen Damen war ein Brief unterwegs, und keine Macht der Erde, es sei denn ein pflichtvergessener Postbeamter in der Sortierstelle, konnte verhindern, daß er pünktlich am Samstag im Büro der Versicherungsgesellschaft eintreffen würde.
Morse verbrachte die nächste Stunde an seinem Schreibtisch. Gegen Viertel nach vier hatte er erledigt, was er sich vorgenommen hatte, und lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Es hatte wenig Sinn, jetzt nach Hause zu gehen. Der Mordfall Sylvia Kaye hatte ihn gepackt und würde ihn so schnell nicht wieder loslassen. Er führte sich zunächst die ihm bekanntgewordenen Fakten noch einmal der Reihe nach vor Augen und begann dann ein Gedankenspiel mit spekulativen Schlußfolgerungen, das ihm jedoch nicht, wie er das früher schon erlebt hatte, die erhoffte plötzliche
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